Alte neue Überfremdungsfantasien

Gesellschaft | Doug Saunders: Mythos Überfremdung

Als der Rechtsterrorist Breivik zu seinem Todeszug aufbrach, hinterließ er auf dem Computer ein Manifest von nicht weniger als 1518 Seiten. Die norwegische Justiz behandelte Breivik als Einzeltäter. Dieser Text zeigt aber, dass er sich selbst als Glied einer internationalen Front verstand, für die längst unumstößliche Glaubenstatsache geworden ist, was der kanadische Publizist und Migrationsforscher Doug Saunders den Mythos Überfremdung nennt. Von PETER BLASTENBREI

ÜberfremdungSaunders hat Breiviks Rechtfertigungsschrift Wort für Wort gelesen. Dabei stieß er auf altbekannte antimuslimische Stereotypen: auf die angebliche Dauerbedrohung des Westens durch einen militanten Islam und die These von der kulturellen Selbstaufgabe Europas ebenso wie auf die Begriffe »Eurabien« und »dhimmitude«, die die Unterwerfung Europas durch einwandernde Muslime und die dann drohende Entrechtung der Nicht-Muslime heraufbeschwören

Die Urheber dieser Ideologeme – Bruce Bawer, Gisèle Littman alias Bat Ye´or, Christopher Caldwell – werden von Saunders gründlich unter die Lupe genommen. Bekannter als sie sind ihre Anhänger und Propagandisten, die diese Konzepte fortgeschrieben und variiert haben, wie Geert Wilders oder Thilo Sarrazin. Der Niederländer Wilders etwa, der die erste offen antimuslimische Partei Europas führt, bestreitet dem Islam sogar den Charakter als Religion und erklärt ihn zur totalitären Ideologie wie Nationalsozialismus und Kommunismus.

Fakten gegen Panikmache

Allen Antiislamisten gemeinsam ist die extrem schmale Quellenbasis ihrer Thesen, falls es eine solche überhaupt gibt. Denn in der Regel bestehen die Nachweise für ihre Bedrohungsszenarien in Verallgemeinerungen von seltenen Einzelfällen, im gezielten Übersehen bekannter empirischer Ergebnisse, missverstandenen Koranzitaten und oft genug in plumpen Erfindungen. Saunders hat drei zentrale Behauptungen herausgegriffen, das übermäßige Wachstum muslimischer Einwandererpopulationen, ihre viel beschworene Integrationsunfähigkeit und ihre Gewalttätigkeit, und konfrontiert sie mit den einschlägigen Tatsachen.

Sicher gibt es bei muslimischen Immigranten heute eine höhere Geburtenrate als bei der ansässigen Bevölkerung, keineswegs aber in dem oft beschworenen Ausmaß. Nicht anders als früher im Westen bringen Verstädterung, Frauenbildung und Verhütung gegenwärtig in islamischen Gesellschaften einen schnellen Rückgang der Fertilität mit sich. Auch bei muslimischen Migranten in Europa ist das längst statistisch nachgewiesen. In wenigen Jahren wird sich das generative Verhalten der Einwanderer an das der Gastnationen angepasst haben.

Ähnlich steht es mit der angeblich alles beherrschenden Religiosität muslimischer Einwanderer, die einer Integration im Weg stehen soll. Die meisten Neuankömmlinge unterscheiden sich in ihrer religiösen Bindung nur minimal von der Gastnation, ihre Loyalität zur neuen Heimat ist nach Umfragen manchmal sogar größer als die der Ansässigen (in Großbritannien!). Sie wollen weder die islamische Justiz einführen noch lehnen sie die Institutionen der Aufnahmeländer ab. Eine Affinität zu politischer Gewalt lässt sich nur bei einem verschwindend kleinen Bruchteil der Immigranten finden, funktionierende Moscheegemeinden sind dagegen ein massives Hindernis für politischen Extremismus.

Wie sich die Bilder gleichen

Der Autor weist auf eine andere wenig bekannte Tatsache hin. In Großbritannien und den USA gab es seit den 1860er Jahren eine Reihe einwandererfeindlicher Schübe, die sich mit den selben Denkmustern gegen Katholiken und Juden richteten wie heute gegen Muslime. Beide sollten sie unabänderlich demokratiefeindlich und integrationsuntauglich sein – Katholiken wegen ihrer mittelalterlich starren, vom Ausland gesteuerten Doktrin, Juden als Träger von Kommunismus und Anarchismus. Beide bildeten angeblich strikt abgeschlossene Parallelgesellschaften, gezeichnet von hoher Kriminalität und überbordender Fruchtbarkeit.

Bekanntlich sind weder US-Amerikaner noch Briten zur Minderheit im eigenen Land geworden, und die Integration von Katholiken und Juden ist längst vollzogen. Auch anderswo im Westen wird es zu keiner muslimischen Machtübernahme kommen, nicht mit Gewalt und nicht »über das Bett«. Saunders belegt dies mit aller notwendigen Klarheit. Er greift dabei auf die neuesten sozialwissenschaftlichen, demografischen und demoskopischen Forschungen zurück (besonders auf die auch hier besprochene Gallup-Langzeitstudie), die im Ergebnis nicht zufällig nahezu identisch sind.

Der Band endet leider in einer irritierenden Antiklimax. Sein letztes Kapitel enthält vier für sich genommen höchst interessante und anregende Kurzessays zu migrationspolitischen und islamwissenschaftlichen Themen. Es wird aber nicht klar, was mit dem Titel des Kapitels, Was uns Sorgen bereiten sollte, gemeint ist. Der grundliberale Saunders setzt auf die Wirkung der Zeit, auf besonnenes Abwarten und die Überzeugungskraft der Fakten. Panik oder Alarmismus irgendwelcher Art sind ihm fremd, und das allein ist bei diesem Thema schon äußerst wohltuend.

Aber reicht das, wenn man mit einem Paukenschlag wie Breiviks Massaker angefangen hat? Vom deutschen Standpunkt aus sicher nicht. Deutsche Verhältnisse werden in dem Buch aber ohnehin nur am Rand gestreift (dazu die hier besprochenen Bücher von Bühl und Bahners). Die fast unhinterfragte Übernahme antiislamischer Stereotype in die öffentliche Diskussion, die Gewaltbereitschaft gegen muslimische Einwanderer (weit über den NSU hinaus), die außenpolitische Opportunität solcher Stereotype und das gefährliche Kokettieren vieler Politiker mit diesen Ideen – all das ist kein Mythos und muss daher Sorge bereiten.

| PETER BLASTENBREI

Titelangaben
Doug Saunders: Mythos Überfremdung. Eine Abrechnung
(The Myth of a Muslim Tide. Do Immigrants threaten the West? 2011)
Deutsch von Werner Roller
München: Karl Blessing Verlag 2012. 256 Seiten. 18,99 Euro

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