Gesellschaft | Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens
Wir lesen eine pragmatische Bestandsaufnahme, die zum geeigneten Zeitpunkt erscheint und mit propagandistischen, ideologischen und einfach nur irreführenden Beschreibungen reinen Tisch macht. Carlo Masala, der Internationale Politik an der Bundeswehrhochschule lehrt, legt eine nüchterne und ernüchternde Darstellung vor, die auch in ihren Erwartungen für die Zukunft viel Plausibilität hat. Von WOLF SENFF
Er konstatiert eine große Weltunordnung, angestiftet von denjenigen, die die anderen Staaten nach dem Maßstab ›Demokratie‹ und ›Menschenrechte‹ hatten zurechtbiegen wollen. Er verurteilt die Doppelmoral der USA und ihrer westlichen Verbündeten, die gegen Ergebnisse demokratischer Wahlen dann vorgingen, wenn sie ihre Interessen gefährdet sahen – die Demokratisierungsgesänge entlarven sich knallharte Machtpolitik.
Interventionistische Ambitionen
Die Interventionspolitik der vergangenen zwanzig Jahre habe das Gegenteil erreicht: Anstatt die jeweiligen Staaten zu stabilisieren, seien Infrastruktur und staatlicher Zusammenhalt zerstört worden. Carlo Masala erinnert daran, dass Russland und China bei der libyschen Intervention und der diesbezüglichen Abstimmung im UN-Sicherheitsrat seitens der westlichen Veto-Mächte hintergangen wurden und dass durch die Zerstörung der staatlichen libyschen Ordnung ein Korridor für Flüchtlinge geöffnet wurde.
Trotz dieser bitteren Erfahrungen stünden die USA nach wie vor zu einer unilateralistischen Politik und zu ihrem interventionistischen Vorgehen, also zu ihrer Politik gezielter Kriegführung, sie befänden sich damit jedoch in dem wenig zuverlässigen Umfeld ihrer westlichen Verbündeten in NATO wie EU; dem Hegemon fehle die Gefolgschaft. Zudem habe sich die Bedeutung militärischer Macht stark gewandelt und sei vor allem noch für die Sicherung eigenen Territoriums wichtig.
It’s the economy, stupid!
In dem wichtigen Feld der Ökonomie kristallisiere sich eine tripolare Konfiguration zwischen Deutschland, den USA und China heraus. Desgleichen entstehe mit den BRICS-Staaten eine neue Macht aufstrebender Nationen, die mit der Gründung der Asiatischen Infrastrukturinvestment Bank (AIIB) ein Gegengewicht zur von den USA dominierten Weltbank setzen. Auch hier zeichne sich ab, dass die Kooperation zwischen den Nationen geschmeidiger werde, sich an ad hoc gesetzten Zielen orientieren werde, weniger ideologisch belastet sei.
Masalas Darstellung ist interessant, weil sie die Klischees, die die mediale öffentliche Wahrnehmung prägen, nicht bedient, sie kennt keine Bösewichte, sie nennt keine Schurkenstaaten, sondern arbeitet mit nachvollziehbaren Fakten und argumentiert ohne Emotionen.
Die neuen Konflikte
Lesenswert, was er als neue Herausforderungen beschreibt. Der Westen projiziere seine Vorstellungen staatlicher Ordnung auf andere Nationen – eine falsche Wahrnehmung. Afrika und der Nahe und Mittlere Osten erlebten den Zerfall ihrer staatlichen Ordnungsstrukturen. Es bildeten sich Tendenzen der Fragmentierung und territorialer Neuordnung heraus, begleitet von einer Re-Nationalisierung, die auch in Europa stattfinde, etwa in Polen, Schweden, Ungarn und der Tschechischen Republik – Länder, in denen nationalistische Parteien an den Regierungen beteiligt sind.
Als weitere Herausforderung im 21. Jahrhundert nennt er Epidemien bzw. Pandemien wie den Ebola-Ausbruch zwischen 2014 und 2016 in Westafrika, die Vogelgrippe in China 2013, die SARS-Pandemie 2002/03; sie würden bislang jedoch zumeist kaum hinreichend ernstgenommen, die mediale Öffentlichkeit reagiere hysterisch.
Gefährdete Sicherheit
Weit gravierender sei dagegen die Ausbreitung von HIV zu bewerten. Obgleich die Übertragungswege bekannt seien, seien für 2014 zwei Millionen Neuinfektionen zu konstatieren, weltweit lebten ca. 37 Millionen Menschen (2014) mit dem Virus, und 1,2 Millionen Menschen starben daran.
Besonders in Afrika sei durch den hohen Anteil von HIV-Infizierten die Sicherheitslage gefährdet. Die Infektionsrate unter den Soldaten sei dort bis zu viermal höher als in der zivilen Bevölkerung, in Zimbabwe etwa gehe man von einer Infektionsrate beim Militär von etwa 80% aus. Das gefährde auch die Abläufe internationaler Kooperation, weil sich die Partner stets vor dem Problem sähen, wie die Soldaten, Diplomaten und Entwicklungshelfer vor den Erregern zu schützen seien.
Migration
Der sprachliche Duktus dieser Untersuchung ist vor allem unaufgeregt, so unaufgeregt, dass sich der Kontrast zur medialen Öffentlichkeit aufdrängt, die allzu gern an den gewohnten Themen festhält, welche Gründe auch immer dafür ausschlaggebend sein mögen.
Carlo Masala beschreibt drittens das Problem der Migrationsbewegungen. Laut Uno-Flüchtlingshilfe seien 2005 ca. 38 Millionen Menschen auf der Flucht gewesen. Im Jahr 2014 seien es bereits sechzig Millionen gewesen.
Nationale Interessen
Last not least verweist er darauf, dass die Informationstechnologie für die internationale Politik eher ein Fluch als ein Segen sei, sie bewirke auch auf nationaler Ebene tendenziell einen staatlichen Kontrollverlust. Der Schaden, der 2013 durch Cyberkriminalität entstanden sei, beläuft sich nach Schätzungen von McAfee weltweit auf ca. 400 Milliarden US-Dollar.
Carlo Masala folgend, gibt es kein gesichertes Wissen über zukünftige Entwicklungen. Daraus leitet er die Erwartung ab, dass ein Staat wie Deutschland sein Handeln strikt an den eigenen Interessen auszurichten habe, und jede Entwicklung, die die Stabilität Europas gefährde, sei eine unmittelbare Bedrohung deutscher Interessen.
Gut dass wir darüber geredet haben
Von weitergehenden politischen Zielen, etwa einer Verrechtlichung internationaler Politik, müsse man sich verabschieden, Masala fordert die mutige Wahrnehmung der eigenen staatlichen Souveränität, im äußersten Fall auch unabhängig von Bündnisverpflichtungen.
»Die Welt des 21.Jahrhunderts ist in Unordnung«. Das sollte eigentlich keine neue Erkenntnis sein, aber Carlo Masalas seriöse und nachdenkliche Untersuchung zeigt erstens, dass in der Beschreibung dieser Unordnung Nachholbedarf besteht, und geht zweitens ernsthaft jene Themen an, die unsere Zukunft prägen werden und im medialen Tagesgeschäft in einem unbestimmbaren Brei aus Hysterie und Gut-dass-wir-mal-darüber-geredet-haben untergerührt und ins große Fass geschüttet werden.
Titelangaben
Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens
München: C.H.Beck 2016
176 Seiten, 14,95 Euro
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Danke für diese schöne Rezension