Gesellschaft | Dirk Müller: Showdown
»Verschwörungstheorie« ist ein alter Hut, sie war eine Waffe im Kampf der Propagandisten und PR-Agenturen, sie war politisch instrumentalisiert zwischen 1950 und 1960 im Kalten Krieg, im französischen Mai 68, im Vietnamkrieg durch die USA, weltweit im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts, sie gewann schließlich mit 9/11 und mit den neuen Möglichkeiten des Internets eine beispiellose Verbreitung. Von WOLF SENFF
Sie führte sich selbst ad absurdum, es brauchte nur hinreichend Zeit, bis offensichtlich war, dass der Vorwurf »Verschwörungstheorie« stets dazu diente, ein missliebiges Thema aus dem Diskurs zu drängen.
Lechts und rinks
Dass konservative Politik in diesem Land von Zeit zu Zeit in der Lage ist, die ideologische Brille beiseite zu legen und den Blick auf die Fakten zu richten, ist erfreulich; wir erkennen es zum Beispiel daran, dass Dirk Müller in Berlin zu Expertenanhörungen hinzugezogen wird und dass sein Rat geschätzt wird. Die Positionen, die er vertritt, wurden noch vor wenigen Jahren verhöhnt und verlacht, sie sind heutzutage jedoch höchst pragmatisch und man sollte sich hüten, sie politisch rechts oder links zu sortieren.
Dieses vertraute politische Koordinatensystem sollten wir dem Orkus anvertrauen. In Naomi Kleins Werk von 2007 über den »Katastrophen-Kapitalismus« lasen wir über profitable Investitionen westlicher Energiekonzerne im russischen Energiesektor – bei Gazprom und Sidanko – im Jahr 1997 unter Jelzin, wobei jedoch der Großteil russischer Reichtümer in den Händen russischer Akteure blieb. Es habe sich um ein »Versehen« gehandelt, wie Naomi Klein spottet, das dem IWF und dem US-Finanzministerium kein zweites Mal unterlief.
In der Klemme
Nahtlos wechseln wir zu Dirk Müller von 2013, der die umfangreichen Gasfelder vor Zypern und unter griechischen Hoheitsgewässern beschreibt sowie die höchst zielorientierten Aktivitäten, wessen wohl, ja, der USA, um diese Felder unter eigene Kontrolle zu bringen. »Wer bohrt im Seegebiet vor Zypern nach Gas? Wieder unsere Freunde vom amerikanischen Unternehmen Noble Energy aus Houston, Texas« – »Europäer waren mal wieder zu langsam, zu träge, zu gutmütig oder zu doof«.
Er zeigt, wo der europäische Einigungsprozess klemmt oder in die Klemme getrieben wird, und man wartet auf eine europäische Politik, die begreift, dass es die eigene Reputation nicht steigert, wenn man sich von Konzernen Gelder aus der Tasche ziehen lässt und, mehr noch, ihnen per Steuerverzicht hohe Summen nachwirft.
Dem IWF kündigen
Auch die Kooperation der EU mit dem Internationalen Währungsfonds IWF, durchgesetzt von deutschen Politikern, sei katastrophal. Wo man gerufen habe, habe der IWF stets eine überdeutlich sichtbare Fährte von Sozialabbau, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und, in der Konsequenz, erhöhten Selbstmordraten hinterlassen.
Die ›Tigerstaaten‹ Südostasiens waren in den Neunzigern weder das erste noch das letzte Opfer des IWF; Dirk Müller nennt außer Griechenland die Türkei, die ihre Verträge mit dem IWF zum frühestmöglichen Zeitpunkt wieder kündigte. »Wir haben keine Absicht, noch einmal mit dem IWF zusammenzuarbeiten« (Recep Erdogan).
Das europäische Erbe
Generell sei die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung verfrüht gewesen, weil die nationalen Ökonomien unterschiedlich leistungsfähig seien; Müller hält für sinnvoll, in einzelnen Staaten wieder eine nationale Währung zu etablieren, und verweist auf das Beispiel Polens, das die Einführung des Euro aufgeschoben habe und sich mit den Bedingungen des Sloty ökonomisch hervorragend darstelle.
Wichtiger als diese Währungsfragen ist ihm das humanistische Erbe Europas und auf dieser Werteorientierung eine soziale Marktwirtschaft, die er »mit dem Einfall der amerikanischen Konzerne« und deren wirtschaftlicher Logik gefährdet sieht. Er erinnert generell an die Verantwortung der USA für die weltweite Krise des Finanzsystems und warnt eindringlich davor, die europäische Sparpolitik fortzusetzen, weil sie einem vernünftigen Wirtschaften die Grundlage entziehe.
Demokratie gegen Lobbyismus
Stattdessen fordert er eine politische Agenda, die eine Grundlage für »rechtliche, fiskalische und politische Planungssicherheit« liefert. Darüber hinaus erwartet er staatliche Investitionen in Infrastruktur etwa in den erneuerbaren Energien mit Blick auf eine grundlegende Umstellung der Energieversorgung, z.B. eine Umstellung des Fahrzeugverkehrs auf Wasserstoffantrieb. Er plädiert für ein System dezentraler Energiegewinnung und -versorgung und schlägt einen Infrastrukturfonds zur Finanzierung vor.
Er sieht jedoch große Hürden auf dem Weg zu einem politisch gemeinschaftlichen Europa, dessen Entscheidungen zurzeit vor allem den Interessen großer Konzerne dienen, und nennt Beispiele aus der Privatisierung der Wasserversorgung. Auch das europaweite Glühlampenverbot sei auf Lobby-Einfluss zurückzuführen. Als einzige Auswege seien eine Stärkung des bürgerschaftlichen Einflusses und die Etablierung dezentraler Entscheidungsstrukturen denkbar.
Ein unabhängiges Europa
Sein aufschlussreicher, die erste Auflage des vergangenen Jahres erweiternder Passus über die Ukraine zwischen skrupelloser Machtpolitik der USA und Russlands weist erneut auf die unausweichliche Orientierung auf ein eigenständiges, politisch von den Machtblöcken des Westens und Ostens unabhängiges Europa.
›Showdown‹ bietet reichhaltige Details für eine zielorientierte europäische Politik, und vielleicht werden sogar in Berlin diese Überlegungen politisch ernstgenommen.
Titelangaben
Dirk Müller: Showdown. Der Kampf um Europa und unser Geld
München: Knaur 2014
302 Seiten. 9,99 Euro
Reinschauen
| Leseprobe