Wer nicht fragt, bleibt dumm!

Gesellschaft | Jesper Juul, Pernille W. Lauritsen: Frag Jesper Juul. Gespräche mit Eltern. Familiencoaching

Pädagogikpabst Jesper Juul hat wieder ein neues Buch zum Thema Erziehung herausgebracht. In Frag Jesper Juul schildert er Episoden aus Beratungsgesprächen, gibt Ratschläge und fügt Erläuterungen hinzu. VIOLA STOCKER fragt sich: warum?

Frag JuulJesper Juul, Prediger von Gelassenheit und Authentizität in der Erziehung, lässt in seinem neuen Buch Ratsuchende teilhaben an seiner Therapiemethode. Der Gründer von »familylabs«, Beratungsstätten für Familien in ganz Europa, gibt Einblicke in seine Praxis. Insgesamt sechzehn Fälle werden vorgestellt und durchgespielt. Sie werden zusammengefasst unter den Oberbegriffen »Erziehung oder Begleitung«, »Gemeinschaft und Pädagogik«, »Rede so, dass deine Kinder zuhören« und »Unser Kind fühlt sich nicht wohl«. Jeder Rubrik wird ein Grundgedanke Juuls vorangestellt, dann folgen die Gesprächsmitschriften und eine kurze Zusammenfassung.

Gefangen im Familienalltag

Mehr ist im Endeffekt auch kaum zum Buch zu sagen. Es geht stets um die kleinen familiären Probleme des Alltags: ein Kind will nicht schlafen, ein Zweijähriger prügelt in der Krippe, eine Dreijährige hat ihre Trotzphase, Eifersuchtsdramen zwischen Geschwistern, eine Mutter mit Burn-Out etc. Juuls Ratschläge sind meist konkret, die besorgten Eltern lassen sich offensichtlich gerne von ihm führen und gehen schnell auf seine Vorschläge ein. Die dankbaren Mütter und Väter dürfen genauso wie Juul ein Fazit ziehen, das selbstredend immer positiv ist.

Für den Leser kann es bisweilen anstrengend sein, dass sich die einzelnen Kapitel so sehr am Alltag entlang hangeln. Gerade der Fall des wilden Kleinkinds, in dem geschildert wird, die Eltern wären in der Krippe gefragt worden, ob der Kleine zuhause mit gewalttätigen Computerspielen zu tun hätte, schlittert hart an einer Farce vorbei. Man hat zudem den dringenden Verdacht, solche Geschichten bereits ein Dutzend Mal gelesen zu haben, gerade von Herrn Juul. Seine Ratschläge sind nicht falsch, sie sind aber auch nicht neu.

Kein großer Wurf

Man wartet vergebens auf Neues, Grundlegendes. Zudem drängt sich vermehrt die Frage auf, weshalb Juul überhaupt die Dringlichkeit sah, dieses Buch zu verfassen. Geht es um die vollständige Ausnutzung eines Markennamens? Nach seinen vielen Schriften, die sich mit konkreten Erziehungsproblemen beschäftigen, die zugegebenermaßen im Alltag vordringlich sind, würde man sich von Herrn Juul auch einmal ein Statement wünschen, weshalb so viele Erziehungsratgeber offensichtlich notwendig waren. Was geschieht in einer Gesellschaft, die in einer differenzierten Globalstruktur existieren kann, aber sich selbst nicht mehr reproduziert und mit den Ausfällen von Kleinkindern so wenig umgehen kann, dass es Familiencoachings braucht und mehrere Bücher pro Jahr?

Offensichtlich haben wir verlernt, mit Kindern einfach zu leben und erwarten von Juul, uns den Familienalltag beizubringen, so wie man Kindern das Lesen lehrt. Das zeigt auch die wachsende Zahl von »familylabs« und die begeisterte Rezeption seiner Bücher und Vorträge. Aber so wie Lesen können die Sinnerfassung nicht beinhaltet, lässt sich Kindererziehung nicht auf wenige Seiten pressen. Dinge, die man verlernt hat, muss man sich in der Praxis wieder aneignen. Weniger lesen und mehr leben kann dabei manchmal von Vorteil sein.

| VIOLA STOCKER

Titelangaben
Jesper Juul, Pernille W. Lauritsen: Frag Jesper Juul. Gespräche mit Eltern. Familiencoaching
Weinheim: Beltz Verlag 2012
181 Seiten, 16,95 Euro.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Im Kino heulen wir manchmal

Nächster Artikel

Alte neue Überfremdungsfantasien

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Visionäre Internetromantik

Gesellschaft | A. Pschera: Das Internet der Tiere | N. Heißmann: Das geheime Wissen der Tiere Klar, es gibt diesen Typus Mensch. Wenn es ihm besonders schlecht geht, setzt er seine letzte Hoffnung auf den Lottogewinn. Was da real abläuft? Wir nennen das Vogel-Strauß-Politik. Oder hat er etwa eine Vision? Aber mal eines nach dem anderen. Von WOLF SENFF

Vorbeigeschrieben

Gesellschaft | Slavoj Žižek: Blasphemische Gedanken. Islam und Moderne Das Massaker in der Redaktion der Pariser Zeitschrift ›Charlie Hébdo‹ im Januar des Jahres hat die unterschiedlichsten Reaktionen ausgelöst, angemessene und weniger angemessene: Solidarität bei den meisten, Schrecken, Mitgefühl, Bestürzung und Trauer, aber auch Versuche zur politischen Vereinnahmung. Zu den seltsamsten Reaktionen gehört das Büchlein ›Blasphemische Gedanken‹ des international renommierten Philosophen und Psychoanalytikers Slavoj Žižek. Von PETER BLASTENBREI

Vom Ende des Begehrens

Gesellschaft | Byung-Chul Han: Agonie des Eros Vorsichtige Einwände treffen das Format, nicht den Inhalt dieses Essays, der beinahe fast-food-like präsentiert wird. Nicht leicht verdauliche Inhalte sind in angenehm beschwingtes Design gekleidet, ein Schnupper-Paket gewissermaßen mitsamt einer Verpackung, die zum Konsum verführt. Man könnte meinen, dass der Verlag seine Leser von dort abholen möchte, wo sie sich befinden. Damit wären wir beim Thema der Agonie des Eros. Von WOLF SENFF

Die Dunkelheit unterm Zucker-Candy – Teil III

Thema | Germany’s Next Topmodel JAN FISCHER hat die erste Folge der neuen Staffel Germany’s Next Topmodel mal gründlich auseinandergenommen. In seinem großen, dreiteiligen Essay findet er unter der bunten Candy-Verpackung der Sendung eine saubere Erzählung von der Dunkelheit am Rande der Stadt.

Messerscharfes Vergnügen

Gesellschaft | Thomas Rothschild: Bis jetzt ist alles gut gegangen

Thomas Rothschild, in Österreich aufgewachsen, verließ das Land aus politischen Gründen und lehrte über drei Jahrzehnte Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. In Deutschland ist er fest in der Kultur verwurzelt. Seine jetzt publizierte Aufsatzsammlung hat eine Menge Vorläufer (zuletzt: Alles Lüge. Das Ende der Glaubwürdigkeit, 2006), der vorliegende Band enthält Glossen und Aufsätze für titel-magazin.de und den Freitag – bevor der nach der Übernahme durch den nachwachsenden Augstein zum Mainstream ins Bett kroch und man sich seitdem leichten Herzens erlaubt, auf qualifizierte Journalisten wie Ingo Arend und Tom Strohschneider verzichten zu können. Von WOLF SENFF