Im Kino heulen wir manchmal

Gesellschaft | Armin Krishnan: Gezielte Tötung. Die Zukunft des Krieges

Armin Krishnan zeigt in seiner umfangreichen und materialreichen Untersuchung Gezielte Tötung: Die Zukunft des Krieges, dass das Erscheinungsbild von Kriegen sich in den vergangenen Jahrzehnten von Grund auf gewandelt hat. Der »konventionelle zwischenstaatliche Krieg« des vergangenen Jahrhunderts sei abgelöst worden durch die »Individualisierung des Krieges«, der das als gefährlich erkannte und identifizierte Individuum durch die Praxis der »gezielten Tötung« eliminiert. Von WOLF SENFF

Gezielte TötungAls Beispiele nennt Armin Krishnan die »Operation Zorn Gottes« des Mossad, der nach dem Anschlag München 1972 die verantwortlichen Terroristen in einer verdeckten Aktion nach und nach weltweit liquidierte, die »Operation Condor« von südamerikanischen Militärdiktaturen (von 1975 bis ca. 1985), in deren Verlauf südamerikanische Geheimdienste, so wird vermutet, weltweit über fünfzigtausend Menschen ermordeten, gleichermaßen das »Phoenix-Programm« der USA in Südvietman, das der Identifizierung und »Neutralisierung« der südlichen Vietcong-Infrastruktur diente und in einem Zeitraum von sechs Jahren (1967-1973) ca. 20.000 bis 40.000 Zivilisten liquidierte; die im Rahmen von »Phoenix« gefangengenommenen Personen wurden in vielen Fällen zu Tode gefoltert oder aus fliegenden Hubschraubern geworfen. Oder: Bis in die achtziger Jahre wurden insgesamt vierzehn IRA-Mitglieder durch die britische Spezialeinheit Special Air Service (SAS) liquidiert.

Armin Krishnan bezieht sich auf Carl Schmitt, der bereits in seinen Ausführungen zum Partisanenkrieg (1963) von einer »Entnationalisierung« des Krieges sprach. Es sei typisch für den individualisierten Krieg, dass Individuen dämonisiert würden: George W. Bush sprach von der Notwendigkeit, »die Welt von allen Bösewichten zu befreien« (2001), und Rumsfeld ließ vor dem Irakkrieg wissen: »Wir brauchen nicht Tausende von Irakern zu töten, um Saddam Hussein von der Macht zu entfernen«. Militärschläge zwecks Beseitigung von »Schurken« seien, so Armin Krishnan, allerdings nicht zielführend, u.a. aufgrund des hohen Aufwands sowie des Risikos, dem Unbeteiligte ausgesetzt würden.

Urbanes Kontrollsystem

Seit der gezielten Tötung des Talibankommandeurs Mohammed Atef (2001) seien Drohnen zur bevorzugten Waffe der amerikanischen und israelischen Streitkräfte für gezielte Tötungen geworden. Sie bleiben bis zu vierzig Stunden in der Luft, sie überwachen ein großräumiges Gebiet, ihre empfindliche Sensortechnik erlaubt die Identifikation von Personen über mehrere Kilometer. Allerdings ist der Einsatz von Drohnen auf »Krisenstaaten« eingeschränkt, so dass im »individualisierten Krieg« verdeckte Geheimdienstoperationen weiterhin, so Armin Krishnan, unerlässlich sind. Derartige Attentate seien jedoch aus vielerlei Gründen keineswegs einfach, die große Mehrheit von ihnen schlage fehl.

Nach Aussage Krishnans ist die längst etablierte individualisierte Kriegführung alternativlos. Westliche Streitkräfte unterhielten Ausbildungseinrichtungen, in denen Soldaten für die Militärische Operation in Urbanem Terrain (MOUT) speziell geschult würden.

Ein wesentlicher Problembereich sei die Erkennung und Identifizierung der Zielpersonen. Wie weit auch hier Realitäten bereits geschaffen würden, zeige die Tatsache, dass das Forschungsinstitut DARPA des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums unter dem Titel Combat Zones that see sich zum Ziel setze, ein urbanes Kontrollsystem für die vollständige visuelle Überwachung einer Stadtbevölkerung zu entwickeln. Seit 9/11 sähen sich westliche Regierungen gefordert, einer Ausweitung des Kriegsgebiets von der Dritten Welt auf das eigene Territorium vorzubeugen, aber tendenziell werde auch – angesichts einer sich verschlechternden Wirtschaftslage – mit größeren Unruhen, Aufständen und Ausschreitungen im eigenen Land gerechnet.

Erkennungschips in Menschen

Die rein technischen Bedingungen liefern Satellitentechnik, weltweit verteilte Abhörstationen (Echelon-System von USA und Großbritannien), automatisierte Überwachung des Datenverkehrs im Internet. Auch biometrische Daten und Fingerabdrücke werden systematisch gespeichert, das US-VISIT-System speichert bekanntlich die Fingerabdrücke aller USA-Reisenden. Die Lokalisierungsmöglichkeit aufgrund von Mobiltelefonen wurde im April 1996 von Boris Jelzin zur gezielten Tötung des tschetschenischen Präsidenten Dudajew genutzt. Im Auftrag der CIA wurden GPS-Funkchips entwickelt, die etwa in Afghanistan und Pakistan an Häuser oder Fahrzeuge vermeintlicher Terroristen angebracht werden, um die Zielgenauigkeit der Drohnenangriffe zu gewährleisten. In Entwicklung sind Mikro-Drohnen, Energiewaffen, Nanowaffen wie z. B. die John-von-Neumann-Maschine.

Auch die Technik zur Implantierung von Erkennungschips in Menschen ist abrufbar bereit und es wird dafür geworben: Chips ermöglichen die Wiederauffindung von verschwundenen Kindern oder desorientierten Senioren und Geisteskranken. Ein Nachtklub in Barcelona überredete Kunden zur Implantation von Chips, da sie dann den Club als »VIP« betreten könnten, ohne sich anzustellen. Immerhin: In Wisconsin und Kalifornien ist die zwangsweise Implantation von Mikrochips gesetzlich verboten.

Endlosschleife martialischer Eskalation

All das sind Details möglicher zukünftiger kriegerischer Konflikte. Man muss sich allerdings viel Mühe geben, um herauszufinden, wie der Autor diese Szenarien beurteilt, und oft hat man als Leser den Eindruck, er halte das für weniger wichtig. Er legt eben den Hauptakzent auf empirische Nachweise. Der moralische Aspekt gehört für ihn vermutlich zum nebulösen Teil der Debatte. Auf derartiges »Glatteis« begibt sich empirische Forschung höchst ungern.

Dabei führt bereits eine simple Überlegung zu zuverlässigen Ergebnissen. Denn wer erfahrene Anführer des Gegners hinrichtet, müsste wissen, dass unerfahrene Kräfte aus dem zweiten oder dritten Glied nachrücken, und je konsequenter Eliten eliminiert werden, desto größer das Risiko chaotischer Neulinge in verantwortungsvoller Position. Das kann unter keinen Umständen und für keine beteiligte Partei positiv sein.

Für diese Überlegung benötigt niemand empirische Belege. Die Umsetzung in Politik kann deshalb nur lauten, daß eine solche Kriegführung ohne Sinn und Verstand ist, weil sie in eine Endlosschleife martialischer Eskalation mündet. Nichts führt daran vorbei, Gespräche aufzunehmen. In Gesprächen muss Vertrauen entstehen können, personelle Kontinuität ist unabdingbar.

Wir erlebten, was sich dieser Tage im Gaza-Streifen ereignete. Dort agieren mittlerweile dezentral unabhängige, radikale Gruppen der Hamas, die sich der Kontrolle durch die regierende Hamas entziehen und nicht bereit sind, auf die Vermittler der ägyptischen Regierung zu hören. Das ist die Lage nach der gezielten Tötung des militärischen Kommandeurs Ahmed al-Dschabari durch Israel. Von diesen dschihadistisch orientierten Gruppen ist nur eines sicher: sie sind unberechenbar, und es ist äußerst fragwürdig, ob Israel mit seinem alttestamentarischen Rache-Prinzip angemessen reagiert. Es heißt bekanntlich auch: »Sie säen Wind und werden Sturm ernten« (Hosesa 8,7). Ein unverbesserlicher Hardliner wie Netanjahu ist in diesem Spiel möglicherweise die falsche Besetzung.

Interessant sind die Lücken

Was interessieren kann an dieser Untersuchung von Armin Krishnan, sind weniger die Ergebnisse. Die sind schnell abgehakt. Erstens: Es ist ein Balanceakt, doch es geht weiter. Zweitens: Die Technologien werden raffinierter, also kleiner, nanohaft, zielsicherer, kurz: besser, besser, besser. Das wissen wir längst alles, es ist immer derselbe einschläfernde Singsang und immer dieselbe Religion, die uns von unseren Muezzin des Fortschritts vorgeleiert wird, mehr als fünfmal täglich und omnipräsent.

An diese frohe Botschaft glauben eh nur noch die Dorftrottel. Gibt zwar eine Menge davon, leider, doch das ändert nichts.

Interessanter sind die Lücken – »There is a crack in everything/ that’s how the light gets in« (Leonard Cohen, Anthem) –, die sich auftun. Die deuten sich zwar an in dieser Untersuchung, doch man hätte sich gewünscht, dass sie trennscharf herausgearbeitet würden.

Immense Kosten

Doch immerhin. Es wird widerlegt, dass gezielte Tötung kostengünstig sei. Armin Krishnan führt als Beispiel die Mossad-Operation in Lillehammer (1973) an, »eine Serie von Pannen«, es wurde der Falsche getötet und die norwegische Polizei fasste einige der Attentäter, bevor sie das Land verlassen konnten; eine der Verhafteten gab zu, für die israelische Regierung zu arbeiten. Die Mossad-Offiziere wurden zu Haftstrafen zwischen zwei und fünfeinhalb Jahren verurteilt, die gesamte Affäre schädigte Israels Beziehungen zu Norwegen und anderen westlichen Staaten erheblich.

In gleicher Weise wirkte die Tötung des Hamasführers Machmud al Mabhou in Dubai im Januar 2010, die erneut zu weltweiter Entrüstung über Israel führte. Aktionen wie diese kosten erhebliches politisches Vertrauen und tragen zur Isolation, in diesem Fall Israels, bei. Was die rein materiellen Kosten betrifft, ergibt sich für die USA pro getötetem Taliban ein Betrag von 50 Mio. Dollar, wenn man die Gesamtkosten, die für die USA pro Jahr in Afghanistan entstehen, auf die getöteten Taliban – rund zweitausend – aufteilt. Lässt man sich auf ein derartiges »Zahlenspiel« ein, kann also von geringfügigen Kosten kaum die Rede sein.

Doch zu den erwähnten »Lücken«, die sich auftun: Recht pragmatisch diskutiert Krishnan rechtliche Fragen der Ermordung von Kombattanten, Sympathisanten, Sponsoren. Er listet vermeintliche Vorteile der gezielten Tötung von Führungspersonal auf, weist aber auf ambivalente Beispiele hin und enthält sich, wie gesagt, des eigenen Urteils.

Das ist empirisch gründlich untersucht, jedoch bleibt es alles in allem ein technokratischer Denkansatz: Ingenieurssprech, wenn man so will, und im Ergebnis kaum zufriedenstellend. Genaugenommen bildet sich eine Denkweise ab, die – wir schauen gern auch in einen Spiegel – charakteristisch für unsere westliche Zivilisation ist. Und, man muss es leider sagen, sie offenbart ein nicht geringes Maß an moralischer Indifferenz.

Fähigkeit zum Mitgefühl verloren gegangen

Denn was hier stattfindet und so locker als »individualisierte Kriegführung« bezeichnet wird, ist die Etablierung des Prinzips Blutrache als »innovatives Prinzip« alltäglicher Kriegführung. Oh, oh, einen Moment bitte! Zuallererst müssen wir die Herrschaften loben, die ein so kaltblütiges, abgebrühtes Marketing inszenieren. Es hätte die bedeutendsten Auszeichnungen verdient, mindestens auf Grammy- oder Oscar-Niveau. Ein uraltes, zurecht verachtetes Produkt wird einfach mal neu etikettiert und als allerletzte Errungenschaft auf den Gabentisch platziert – so führt man Deppen aufs Glatteis.

Nun mal im Ernst. Es ist höchste Zeit, sich vorurteilsfrei damit zu beschäftigen, was in unseren Köpfen stattfindet, und zu fragen, in welches Stadium der Verwahrlosung wir mittlerweile eingetreten sind, ohne dass wir es überhaupt merken. Nein, diese naheliegende Frage stellt der Autor bedauerlicherweise nicht.

Die Oberflächlichkeit seines Vorgehens zeigt sich daran, dass er das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen nicht erfasst und es auch in der weltweiten Entrüstung nicht erkennt. Offensichtlich ist der Kultur und den Menschen der »Freien Welt« die Fähigkeit zum Mitgefühl verloren gegangen. Irgendwie abhanden gekommen und niemand hat’s gemerkt. Gut, gut, ich weiß, im Kino heulen wir noch manchmal.

Tränen und Trümmer

Das, zugegeben, ist ein schwieriges Thema. Und dass darin der tiefere Grund dafür liegt, dass »individualisierte Kriegführung« bereits die Sackgasse darstellt bzw. gar der Abgrund ist, in den der Westen seit längerem immer nur tiefer abstürzt, blind für die eigenen Fehlleistungen – bis zu dieser selbstkritischen Fragestellung dringt der Text auch nicht annähernd vor. Es wäre bitter nötig.

Noch etwas deutlicher. Wir müssen uns fragen, ob nicht wir das moralisch verkommene Gesindel sind, das marodierend und brandschatzend über den Planeten zieht und Tränen und Trümmer hinterlässt. Ob nicht wir jene abscheulichen Vorbilder sind, die den Heranwachsenden täglich den Amoklauf vorexerzieren, in unseren militärischen Invasionen genau so augenfällig wie in der Finanzwelt.

Keine Panik bitte. Sind wir nicht die Nachfahren ruchloser und barbarischer Horden, die einst mit Axt und Keule durch die Wälder streiften? Ein erbärmlich primitives Pack, nicht wahr? Heute nutzen wir immerhin wissenschaftlich ausgefuchste Technologien, wir sind atomar bewaffnet, wir sind drohnengerüstet. Steinzeit? Gott, waren das phantasielose Zeitläufte!

Manchmal möchte man schon gern, dass jemand anfängt, nach dem Ausgang zu suchen, und dass eine öffentliche Debatte entsteht. So detailreich Armin Krishnans Arbeit erfreulicherweise ist, so sehr hätte man doch gewünscht, dass er auf seinen Ergebnissen aufbaut und politische Konsequenzen einfordert.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Armin Krishnan. Gezielte Tötung: Die Zukunft des Krieges
Berlin: Matthes & Seitz 2012.
270 Seiten. 17,90 Euro

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