Gesellschaft | Ulf Kadritzke: Mythos »Mitte« oder: Die Entsorgung der Klassenfrage
Diese vergleichsweise kurze Arbeit greift ein Thema auf, das noch im vergangenen Jahrhundert stets wieder diskutiert und stets wieder unter den Teppich gekehrt wurde. Die neueste Version, diesmal von gänzlich unerwarteter Seite, schuf der Milliardär Soros mit seinem Bonmot vom »Klassenkampf von oben«. Von WOLF SENFF
Von Klassenkampf sprechen üblicherweise die lohnabhängig Beschäftigten, das Wort vom Klassenkampf gilt selbst bereits als politische Kampfparole, die von den Gegnern deshalb ungern benutzt wird. Der nüchterne Blick ist keine leichte Übung.
Einkommensschere
Wer diese Gegner sind? Üblicherweise sind’s diejenigen, die nicht lohnabhängig beschäftigt sind, also Eigentümer von Betrieben, Eigentümer von Immobilien, die ihre Brötchen leistungslos nach Hause tragen, andere die ihre Tage ebenso leistungslos von den Zinsen ihrer Vermögen gestalten etc. p. p., es dürfte sich grob geschätzt um das eine Prozent handeln, das in der aktuellen Debatte des Öfteren erwähnt wird, eine radikal kleine Minderheit, die über Unmengen von Vermögenswerten verfügt.
Man spricht dann allgemein von einer sich weit öffnenden Schere der Einkommen, in Sonntagsreden wird darüber geklagt und gejammert, und niemand fühlt sich verantwortlich, geschweige denn veranlasst, diese Verhältnisse zu ändern. So geht’s, die allgemeine Trägheit ist beträchtlich.
Mittelschichtkultur
Im ›Bierkönig‹ auf Mallorca, einem der berühmten deutschen Kulturtempel, unterhält der erfolgreiche Schlagersänger Ikke Hüftgold sein Publikum mit »Dicke Titten, Kartoffelsalat«, einem seiner Hits. Und, die Welt ist ein Dorf, ›Hüftgold‹ nennt sich ein Lokal im vornehmen Hamburg-Winterhude. Ist das prollig? Ist das unsere Mittelschichtkultur, die die Widersprüche in die Trägheit des Nebels auflöst?
Kadritzke setzt sich mit dem Thema Mitte bzw. Mittelschicht auseinander, nicht kulturkritisch, sondern als Sozialwissenschaftler – und nach seiner Einschätzung ist ›Mittelschicht‹ ein Konstrukt, das letztlich dazu herhalten muss, die ungebrochene Existenz der sogenannten ›Klassen‹ und folglich einer ›Klassengesellschaft‹ zu verschleiern.
Merkels Sache nicht
Die realen Verhältnisse jedoch sind kompliziert, und Ulf Kadritzke erklärt die so pompöse feuilletonistische Floskel vom Schwinden der Mittelschicht schlicht damit, dass sich Armut in unserer Gesellschaft ausbreite – das aber ist ein politisch überaus heißes Eisen, und wenn denn schon Wahlkämpfer hier und da von Armut im Lande reden, pflegen die angesprochenen Politiker inhaltlich nicht darauf einzugehen, sondern werfen jenen Wahlkämpfern vor, sie würden unser ach so schönes Land schlechtreden.
Nein, die tonangebenden Eliten möchten dieses Thema nicht aufgreifen. Es wäre ja ein massiver Vorwurf gegen jahre- und jahrzehntelange Grundsätze politischen Handelns. Die Sorge um die wachsende Ungleichheit und um die tiefe soziale Kluft in dieser Gesellschaft ist Merkels Sache nicht.
Ulf Kadritzke nennt das die »Entsorgung der Klassenfrage« und zeigt, dass es ähnliche Ansätze immer schon gab. Bereits in der Weimarer Republik redete man von einem neuen Mittelstand, dem die Angestellten zugerechnet wurden, und Helmut Schelsky prägte den Begriff der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (1953). Auch Heinz Bude, gegenwärtig einer der Lieblinge unserer Feuilletons, verkenne in seiner hochgelobten Studie zur ›Gesellschaft der Angst‹ die Realitäten.
Titelangaben
Ulf Kadritzke, Mythos »Mitte« oder: Die Entsorgung der Klassenfrage
Berlin: Bertz + Fischer 2017
108 Seiten, 7,90 Euro
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