/

Im Rausch des Fortschritts

Gesellschaft | Nils B. Schulz: Gedanken zur Dequalifizierung des Lehrers

Wie schön, sind ›wir‹ mal wieder Weltmeister. Das hörst du gern, da steigt Begeisterung hinauf bis in die Ohren und färbt sie glühend rot. Mit siebenunddreißig Prozent, so sagt die Nachrichtenseite, hat Deutschland weltweit den höchsten Anteil Hochschulabsolventen in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – na bitte. Von WOLF SENFF

Scheidewege 47Läuft alles paletti, die Schulen liefern exakt, was Wirtschaft verlangt, was soll das permanente Gemecker. Könntest du sagen – doch so simpel sind die Dinge nicht. Zur Situation des Lernens und der Schulen publiziert die Zeitschrift ›Scheidewege‹ einen aufschlussreichen Text, der das Thema erfreulich praxisorientiert beleuchtet.

Sprachliche Schönfärberei

Nils Björn Schulz arbeitet als Lehrer an einem Berliner Gymnasium und fährt nicht mit auf dem global verkehrenden Hochleistungswaggon, sondern er sucht herauszufinden, welche Rolle den heranwachsenden Persönlichkeiten der Schüler zugeschrieben ist bzw. in seinen Worten: welches Menschenbild die Schule festigen will, d. h. er nähert sich Schule aus einer komplett anderen Richtung.

Schule befinde sich in einem Umbauprozess, das erwartete Resultat sei eine »neue Lernkultur«, begleitet von reichlich sprachlicher Schönfärberei – ›Lernlandschaften‹, ›Lernbegleiter‹, ›Kompetenzentwicklung‹, ›Qualitätssicherung‹ etc. –, die dazu diene, dem Umbau einen gefälligen Wellness-Touch zu verleihen. Ein kurzes Nachblättern bei Wikipedia firmiere flugs als »digitale Recherche«. Oh wenn sie anfangen, dich zu streicheln, ist es Zeit, misstrauisch zu werden.

Korrektur von Deutscharbeiten

Schulz konstatiert im Kontext der Digitalisierung einen neoliberalen Umbau des Bildungswesens, seine Argumentation sticht schmerzhaft in den schulischen Alltag und in die üblicherweise lauthals gepriesene Praxis am Computer.

Ausführlich geht er auf die Korrekturpraktiken ein. Für den korrigierenden Deutschlehrer werde ein Zwölf-Punkte-Kriterienraster als Service angeboten, als »Hilfe«, die den Lehrer, der sich auf diesen Online-Service einlässt, in ein standardisiertes Vokabular mitsamt standardisierten, prozentual fixierten Bewertungsbereichen so hineinzieht, dass ihm eine subjektiv verantwortete Entscheidung entzogen ist.

 
 
 

Standardfloskeln und Allgemeinplätze

Die seitens der Behörde angebotenen Standardslogans erfassen, so Schulz, oft die Charakteristika von Schülerarbeiten nicht hinreichend; sie stünden einer angemessenen Bewertung im Wege, und generell sieht er in dieser »neuen Lernkultur« die Absicht, Ansprüche zu nivellieren – durch Online-Raster werde wertvolle jahrelange Beurteilungserfahrung diskreditiert.

Zumal die Sinnfälligkeit der standardisierten Klausur-Gutachten zweifelhaft sei und den Lehrer in eine Position dränge, jede einzelne Notenpunktvergabe rechtfertigen zu müssen – ein wahrhaft gemeinschafts- und vertrauensbildendes Moment.

Plastiksprech

Manche der standardisiert formulierten Bewertungskriterien, etwa im Fach Politik, seien für einzelne Schüler nicht transparent, da sie auf fachspezifischen Kenntnissen aufbauen würden. Geradezu lächerlich seien die behördlicherseits vorfabrizierten Bewertungstexte für das Fach Philosophie. Zurecht spricht Nils Schulz von einer Entmündigung des Lehrers, und man staunt, auf welches Niveau sich eine Behörde begibt, die ihren Gymnasien derartige Texte liefert. Plastiksprech.

Aus dem fachlich kompetenten Lehrer werde Schulz zufolge letztlich ein Anhängsel des Computers, und diese bereits zu beobachtende Transformation der Lehrerpersönlichkeit drohe als zusätzliche Gefährdung.

Die gewollte Verwahrlosung

Dazu passt das Detail, dass die Berliner Senatsbehörde davon ausgeht, eine Oberstufenklausur könne in zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten korrigiert werden. Schulz fühlt sich zurecht an den Terminus ›Gestell‹ des späten Heidegger erinnert.

Die Verwahrlosung schulischer Bildung, man muss das so sehen, ist knallharter Teil des politischen Konzepts, und jegliche anderslautende Äußerung von Politikern ist allein dem Wahlkampf geschuldet – nach dem 24. September wird alles weiterlaufen wie gehabt. Man fragt sich lediglich, weshalb sich Politiker und andere selbsternannte Eliten über den wachsenden Ärger der Bevölkerung wundern.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Nils B. Schulz: Digitale Bewertungsraster als Form der Entmündigung – Gedanken zur Dequalifizierung des Lehrers
In: Scheidewege, Jahresschrift für skeptisches Denken, hg. von der Max Himmelheber-Stiftung, S. 288-306
Stuttgart: S. Hirzel 2017
411 Seiten, 37,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Folkdays … Blues im Gestern und Heute des Genres und Lebens

Nächster Artikel

Heldinnenmut

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Subversive Ideale

Gesellschaft | Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Erwachsen werden wir alle, körperlich jedenfalls und im juristischen Sinn, sobald wir ein bestimmtes Alter erreicht haben (und nicht schwer geistig behindert sind). Und dennoch weiß jede/r, dass genug Erwachsene ihr Leben lang kindlich bleiben, sich schwertun mit Verantwortung oder allgemein damit, sich mündig und selbstbestimmt zu verhalten. Was Philosophen über das bewusste Erwachsenwerden zu sagen haben, stellt uns Susan Neiman, Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, in ›Warum erwachsen werden?‹ vor. Von PETER BLASTENBREI

Kreuzzug eines Unbelehrbaren

Gesellschaft | Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror Vor vier Jahren schaffte sich Deutschland ab, blieb aber immerhin lebendig genug, um zwei Jahre später zu erfahren, dass Wunschdenken uns in die Krise geführt hat. Nun klappert ein neues Gespenst bedrohlich mit bleichem Gebein. Eine veritable Schreckensherrschaft tobt um uns. Durch Tugend. Thilo Sarrazin ruft mit ›Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland‹ wieder zu einem Kreuzzug auf und erweist sich als ganz und gar unbelehrbar. Von MAGALI HEISSLER

Russische statt ukrainische Kampfdelfine

Gesellschaft | Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch »Was gerade auf dem Majdan passiert, ist unklar«, so schließt der Tagebucheintrag vom 9. Dezember 2013. – Der ukrainische Autor Andrej Kurkow, geboren 1961, wurde international durch seine humorvollen Romane bekannt, in denen er den absurden, turbokapitalistischen Alltag der seit 1991 unabhängigen Ukraine beschreibt. Die bekanntesten sind ›Picknick auf dem Eis‹, ›Der Milchmann in der Nacht‹ oder ›Die letzte Liebe des Präsidenten‹, ein Buch das seit neustem auf Russlands Zensurliste steht. Nun ist ein Auszug aus Kurkows Tagebuch, das er während der aufwühlenden letzten Monate geführt hat, auf Deutsch erschienen. Darin verfolgt, kommentiert, analysiert

Historical Gaming or Gaming with History

Digitales | Games: Historical Gaming Wie wird in Videospielen mit geschichtlich sensiblen Themen wie beispielsweise dem Holocaust umgegangen? Oder können Spiele damit überhaupt verantwortungsvoll umgehen? RUDOLF INDERST mit ein paar grundsätzlichen Überlegungen.

Das Verhängnis einer Liebe

Menschen | Ingeborg Bachmann, Max Frisch: »Wir haben es nicht gut gemacht«

Von Juli 1958 bis zum Frühjahr des Jahres 1963 dauerte die Liebesbeziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch – zum Ende hin war sie vergiftet und zerbrach. Immer wieder ist über sie in der literarischen Öffentlichkeit gestritten worden mit Frisch in der Rolle des Böswichts und Bachmann in der des Opfers. Ein neues Editionswerk verlangt nach einer Korrektur der Sicht auf diese unheilvolle Beziehung der österreichischen preisgekrönten Lyrikerin und dem schweizerischen Erfolgsautor. Von DIETER KALTWASSER