/

Raus!

Gesellschaft | Renz-Polster / Hüther: Wie Kinder heute wachsen

Wie tief verunsichert Eltern dieser Tage bezüglich der Erziehung ihrer Kinder sind, zeigt allein die Fülle an Literatur zu familienpädagogischen Fragen. Jedes Buch, das einen Hauch von Normalität in den überpädagogisierten Kinderalltag bringt, verdient deshalb großes Lob. Umso mehr, wenn es, wie Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther in ›Wie Kinder heute wachsen‹ derart profund den kindlichen Entwicklungsraum analysiert und die Leser wieder zurück auf den Boden der Tatsachen holt. VIOLA STOCKER ließ sich aufklären.

61aZAv1cAULEin renommierter Kinderarzt und Vater von vier Kindern und ein angesehener Professor für Neurobiologie verfassen gemeinsam ein Buch über die Kindheit. Das lässt hohe fachliche Kompetenz erahnen, die in unserer Gesellschaft, in der mittlerweile menschliches Urteil über McKinsey-Studien gefällt wird, sehr gefragt ist. Dennoch haben Renz-Polster und Hüther vor allem eines geschrieben: ein Buch über den gesunden Menschenverstand.

Bildungsverzweiflung

Wenn PISA-Studien an den intellektuellen Leistungen des Nachwuchses verzweifeln, Lehrer und Professoren über Verdummung schimpfen und Amokläufe und digitale Welten den Alltag der Kinder aus den Angeln heben, muss doch etwas schief gelaufen sein. Verzweifelte Schulreformen versuchen zu korrigieren, immer mehr Wissen wird in immer kürzerer Zeit doch nicht angeeignet und Wirtschaft und Politik verlangen jüngere Arbeitskräfte mit mehr Bildung.

Gleichzeitig ändert sich wenig zum Guten, Kinder können weder Schwimmen noch Fahrradfahren, motorische Fähigkeiten lassen nach und emotionale Bindungen veröden. Was ist faul im Staate Dänemark? Während die Gesellschaft an Kindergärten und Schulen immer höhere Forderungen heranträgt, legen die Autoren den Finger in die Wunde. Schuld sind die Großen, nicht die Kinder. Es sind die Erwachsenen, die vergessen haben, was Kindheit seit Urzeiten bedeutet.

Kindheit als Ontogenese

Gut, dass Hüther und Renz-Polster hierauf eingehen. Wie funktioniert Kindheit, das Gehirn, was ist eigentlich los mit dem vermaledeiten Nachwuchs? Die Antwort ist denkbar einfach. Nichts ist los. Die Kinder sind völlig in Ordnung, wie sie es schon immer waren. Nur die Gesellschaft hat sich verändert. Der Mensch wird hilflos geboren und entwickelt zum Homo Sapiens. Doch hat er vergessen, dass auch seine Gattung Teil der Natur ist.

Die Zivilisation gaukelt der Gesellschaft vor, dass sie mit dem großen »Draußen« nichts zu tun habe. Die Höhlen, die Lagerfeuer, Jagen und Sammeln, Überleben in einer Gemeinschaft, in der jeder auf den anderen angewiesen ist, alles scheint überwunden. Doch in der Kindheit spiegelt sich die Ontogenese des Menschen jedes Mal aufs Neue. Deshalb sollten sich Kinder vor allem an der Kraft messen, an der sich die Menschheit schon immer messen musste: an der Natur.

Bildung als Bequemlichkeit

Doch genau hier fangen die Probleme an. Renz-Polster und Hüther schlüsseln klug auf, dass es nicht die Kinder sind, die unter Defiziten leiden, sondern dass es die zivilisierte Bequemlichkeit der Erwachsenen ist, die ihnen den Zugang zur Menschenbildung verweigert. Wenn Erwachsene nicht draußen sind, haben Kinder keine Gelegenheit, sich an der Natur zu bilden. Der Ehrgeiz der Eltern erstreckt sich über viele Dinge, die Natur gehört jedoch nicht dazu. Dabei ist es so einfach, Kinder draußen glücklich zu machen.

Kinder brauchen Natur und Kinder brauchen Kinder. Altersgemischte Gruppen, so die Autoren, die draußen unbeaufsichtigt spielen dürfen, finden schnell in soziale Gefüge, die denen von Gesellschaften gleichen. Die Großen kümmern sich um die Kleinen, nicht immer gewinnt der Stärkere, draußen braucht es auch Geschick und Klugheit. Sportliche Wettbewerbskriterien verfallen, wenn es darum geht, einen Bach zu stauen oder Beeren zu ernten. Kinder, die draußen sind, sind glücklicher und ausgeglichener.

Achtsamkeit drinnen und draußen

Dass Natur nützt und nicht schadet, zeigt der Zulauf zu Waldkindergärten und die lapidare Feststellung Renz-Polsters, dass Waldkindergartenkinder bei der Einschulung keine Defizite aufweisen gegenüber Kindern, die schon im Kindergarten in die Bildungsmühle geraten sind. Mehr Wissen und das auch noch früher? Es bringt den Kindern nichts, sie verarmen emotional und motorisch und sind der Natur unterlegen.

Wie geht man aber mit dem gefährlichen »Drinnen«, den Computerspielen, dem Fernseher um? Hüther und Renz-Polster holen die besorgten Eltern auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie erinnern daran, dass es vor ca. hundert Jahren besorgte Mediziner gab, die feststellten, dass Lesen für Frauen schädlich sein könne, da es den Wahnsinn fördere. Computer und Fernseher gehören zu unserer modernen Art, Geschichten zu erzählen. Es ist der maßvolle Umgang, der hier geübt werden sollte, der den Eltern Angst und schlechtes Gewissen nehmen kann. Kinder, die viel draußen sind, dürfen auch drinnen am Fernseher und Computer spielen und ausruhen.

Bedrohte Welt, bedrohte Kindheit

Es ist dieser Gesellschaft leider gelungen, nicht nur die Erde, die Grundlage ihrer Existenz, deutlich auszulaugen und auszubeuten, sondern darüber hinaus auch noch die Basis ihres Fortbestands, den Nachwuchs, zu verunbilden und zu entwurzeln. Dabei hatte die Pädagogik im Zwanzigsten Jahrhundert viele gute Ansätze, die den Kindern nützlich wären. Es braucht gar keine großen Reformen, wenn man Renz-Polster und Hüther glaubt. Ein liebevoller, offener Blick auf die Kinder und kritische Hinterfragung der eigenen Lebensart reichen vollkommen aus. Man sollte den Kindern die Natur zurückgeben.

| VIOLA STOCKER

Titelangaben
Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen
Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken
Weinheim: Beltz Verlag 2014
264 Seiten, 17,95 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Leben – komprimiert auf 60 Minuten

Nächster Artikel

Die Regie drückt ein Auge zu

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Gesellschaft | Fuchs / Goetz: Geheimer Krieg Die Autoren machten sich auf den Weg, um herauszufinden, ob es ein top secret Germany gibt, das nicht in öffentliche Strukturen eingebunden ist und sich demokratischer Kontrolle entzieht. Wie sehr sind deutsche Behörden in die militärischen Strategien der USA eingebunden? Machen sich deutsche Behörden zum willfährigen Handlanger amerikanischer Kriegsführung? Christian Fuchs und John Goetz gingen auf Reise »in ein unbekanntes Deutschland«, in »eine geheime Welt«. Von WOLF SENFF

Über die Entzauberung des Genies

Kulturbuch | Bas Kast: Und plötzlich macht es Klick! Der Psychologe Bas Kast möchte mit ›Und plötzlich macht es Klick! Das Handwerk der Kreativität oder wie die guten Ideen in den Kopf kommen‹ den althergebrachten Nimbus der Genialität entzaubern. Was zeichnet einen kreativen Menschen aus und weshalb gibt es so wenige davon? Bas Kast erläutert Funktionsweisen eines kreativen Gehirns und gibt all denen Hoffnung, die ihr bislang wenig kreatives Leben etwas aufmöbeln möchten. VIOLA STOCKER ging in die Schule der Genies.

Weitere Aufklärung notwendig

Sachbuch | Nina Brochmann, Ellen Stokken-Dahl: Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht Als man mir übertragen hat eine Besprechung des Buchs ›Viva la Vagina! Alles über das weibliche Geschlecht‹ zu schreiben, habe ich zuerst überlegt, welche Themen wahrscheinlich angesprochen werden würden. Sie braucht Beachtung und sie braucht Zeit, waren meine ersten Gedanken. Sie mag es sanft angefasst zu werden und, je nach Situation, auch mal intensiver. Sie hat eigene Bedürfnisse und muss lernen, diese zum Ausdruck zu bringen. Bei der Lektüre wurde ich in all meinen Annahmen bestätigt. Allerdings beschränkt auf das Kapitel »Sex«, welches nur ein Siebtel

Staatsbürger – Säkularist – Muslim

Gesellschaft | Tahar Ben Jelloun: Der Islam, der uns Angst macht Die Ereignisse vom 7. Januar 2015 in Paris haben alle französischen Intellektuellen erschüttert, besonders tief aber diejenigen, die aus der islamischen Kultur Nordafrikas kommen und schon lange im französischen Leben eingewurzelt sind. Tahar Ben Jelloun hat nicht erst mit dem Anschlag auf ›Charlie Hébdo‹ angefangen, über den Islam und den Westen nachzudenken, wie ›Der Islam, der uns Angst macht‹ belegt. Von PETER BLASTENBREI