Leben – komprimiert auf 60 Minuten

Bühne | Die Uhr tickt – Timpul trece (Badisches Staatstheater Karlsruhe)

Was kann besser sein, als sich mit ernsten Themen wie denen von Leben, Älterwerden und Tod in einem interaktiven Rahmen der Selbstbestimmung auseinanderzusetzen? Diese Themen zeigt die Kooperation von Schauspielern, Moderatoren und Zuschauern im Stück »Die Uhr Tickt«. Von JENNIFER WARZECHA

2014_09_30_hp_die_uhr_tickt_0677_webDie Uhr tickt für den Zuschauer relativ langsam, innerhalb eines Zeitrahmens von 60 Minuten. Diese aber sind prall gefüllt von Lebensthemen, Themen, die jeden Menschen und damit auch den Zuschauer, innerhalb seines Lebens beschäftigen: Egal, ob es dabei um jedermanns Themen geht, wie der Frage nach der Ablösung von den Eltern, Beziehung und Partnerschaft, ein Wiedersehen nach langen Jahren von Vater und Tochter, der Frage nach Toleranz von Migranten in Deutschland oder danach, was die Möglichkeit der Reproduktion uns allen tatsächlich bietet.

Die Kunst des Alterns

Das eineinhalbstündige Stück, in dem auf Zuruf des Zuschauers jeweils fünf von zehn Szenen gespielt werden, ist Teil des ETC-Projekts ›The Art of Ageing‹, einer Koproduktion mit dem Rumänischen Nationaltheater Temeswar. Dementsprechend sind zwei der Moderatoren und Schauspieler Deutsche, zwei sind Schauspieler, die aus Rumänien stammen. An diesem Aufführungsabend im Badischen Staatstheater ergreifen vorwiegend die beiden Schauspieler Sophia Löffler und Jan Andreesen das Wort und beziehen das Publikum im voll besetzten Studio des Staatstheaters mit ein.

Sabina Bijan aus Timisoara in Rumänien und Colin Buzoianu, ebenfalls aus Timisoara, liefern jeweils die Simultanübersetzung für denjenigen Teil des Publikums aus Rumänien, der an diesem Abend Teil an der deutschen Version des Stückes hat, der teilweise auf der Mitbestimmung des Publikums basiert. Sie sind es auch, die innerhalb der rumänischen Version das Kommando vorne haben.

In einzelnen Video-Szenen, sogenannten Mini-Dramen, geht es dabei genau um die Themen Leben und Tod, wie in der Szene, die einen Lebensausschnitt des kleinen rumänischen Dorfs Lindenfels repräsentiert und in der als sogenannter »Geisterstadt« kaum ein Anhänger der jungen Generation arbeiten möchte, geschweige denn jemand wirklich die genaue Postleitzahl – sie wird genau deswegen während des Theaterstücks eingeblendet – kennt.

Überlistet von den Alten

2014_09_30_hp_die_uhr_tickt_0589_webIn einzelnen Szenen wie der ersten, der »Kunst des Augenblicks«, werden Gedanken der Zuschauer und Zeitgenossen reflektiert. Ein 81jähriger Gesprächspartner will dabei zum Beispiel noch nicht an den Tod denken. In der zweiten Szene treffen sich Sophia Löffler und Colin Buzoianu. Er verließ sie und ihre Mutter. Sie wirft ihm ein Sandwich an den Kopf und macht ihm Vorwürfe, weil er ihre Mutter verlassen hat. Er beschwört darauf, dass er aufgrund seiner Krebserkrankung nur noch ein Jahr zu leben hätte. Sie überzeugt das nicht und beide enden darin, unbefriedigt aus der Situation herauszugehen, eine typische Situation, die die sogenannte Moderne charakterisiert.

In einer weiteren Szene bestreitet ein verrückt dreinblickender Mann mit wirrem Haar und ausgestopftem Bauch (Jan Andreesen) die Szene mit einem Klavierspiel. Er, 43, möchte nach Berlin und ist zugleich zu Hause, aufgrund seiner finanziellen Situation und Zwangslage, gefangen. Wütend darauf, dass er keine Frau unterhalten kann und keine Geschwister hat, beschimpft er seine Eltern und schwört auf seine vermeintliche Midlife-Crisis. Der Vater stirbt und hinterlässt eine Lebensversicherung – das willkommene Fressen und die gewünschte Lebensabsicherung für den Sohn. Während dieser sich noch in die Haushälterin verliebt, ersticht wiederum der Vater den Sohn. Ein willkommenes Thema für die Grundessenz des Stückes, die da ist: Die Generation der Alten überlistet mit ihren Ansichten und Konfessionen sowie Vorgaben die Ziele und Attitüden der Jüngeren.

Laut Michael Gmaj, einem der Leiter der Dramaturgie des Stückes, sind genau diese die »ausgetricksten Räuber«, die den Eltern dadurch unterlegen sind, dass diese ihnen nichts entgegensetzen, sondern sie mit einer »Versteh‘ ich«-Haltung in ihrer Entwicklung bremsen und dafür sorgen, dass sie damit konfrontiert sind, dass die alte Generation genau das besetzt, wofür die neue Generation stehen möchte.

Wie es einem rumänischstämmigen Autoren des Stückes, wie es Peca Stefan ist, gebührt, sind dabei auch einige zeitkritische Stimmen zu hören, wie die nach der Frage des Verlaufs der Rumänischen Revolution.

„I Like… „?

Die Zuschauer können mit Karten »voten«, ob sie die Aussagen des Stückes unterstützten oder ablehnen (oder sich erst mit 60 Jahren entscheiden möchten). Der Trend geht dazu, das Leben auf sich zukommen zu lassen, es zu genießen – und sich nicht zu bemitleiden und erst mit 60 Jahren bewusst zu werden, ob man tatsächlich seinerzeit in der Mitte des Lebens für jemanden gestorben wäre.

2014_09_30_hp_die_uhr_tickt_0594_1_webGerade in der Reproduktionsszene, innerhalb derer Sophia Löffler Jan Andreesen davon überzeugen möchte, dass alle Körperteile des Menschen nachahmbar und käuflich erwerblich sind, wird deutlich: Je älter wir werden, desto mehr wir austauschen, desto weniger sind wir selbst wir selbst. Perfekte Bausteine generieren noch keine Individualität. Eine perfekte Lehre des interaktiven Stückes. Die Moderatoren beziehen das Publikum, wie als Teil einer Marketing-Kampagne, die ihnen und dem Publikum Nutzwert verschafft, ein.

Untermalt wird das Ganze vom Chor der Banater Schwaben Karlsruhe, die als »Erdbeerwaisen« in die Geschichte eingingen – also als diejenigen, deren Eltern aus Rumänien hinaus ins Ausland gingen, um zu arbeiten und Geld für ihre Angehörigen zu verdienen. Sie sind es auch, die nicht nur im Chor von »Schöne(n) Rosen« und »So jung und heute« singen. Sondern sie sind es auch, die letztendlich den Kontakt mit dem Publikum dadurch suchen, dass sie Kuchen und Sekt ausschenken und mit den Anwesenden feiern.
Ein gelungener Abend! Und ein rundum gelungenes Stück der Interaktion von Schauspielern und Publikum, aber vor allem der Interaktion des deutschen und rumänischen Publikums.«

| JENNIFER WARZECHA / Fotos: Felix Grünschloß

Titelangaben
Die Uhr Tickt – Timpul Trece
Badisches Staatstheater Karlsruhe
von Peca Stefan in deutscher, rumänischer und englischer Sprache
Koproduktion mit dem Nationaltheater Temeswar, Rumänien
Im Rahmen des ETC-Projekts The Art of Ageing
Regie: Malte C. Lachmann
Mit:
Sabina Bijan
Sophia Löffler
Jan Andreesen
Colin Buzoianu

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zürich in Farbe

Nächster Artikel

Raus!

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Wenn Tugend und Humanismus die Oberhand gewinnen

Bühne | Bertolt Brechts ›Mutter Courage und ihre Kinder‹ Krieg und Gewalt sind Themen, die nicht nur stets die Gesellschaften bewegen, wie aktuell die Flüchtlingskrise oder die Anschläge in Paris. Krieg und was sie daraus macht, was sie moralisch bewegt und wie das die Leichen ihrer Kinder übersteigt, sind Themen, die auch Anna Fierling, genannt ›Mutter Courage‹, beschäftigen. Habgier versus Mutterliebe, Profit auf Kosten aller und besonders der Familie – Bertolt Brechts Werk ›Mutter Courage und ihre Kinder‹ (Uraufführung als ›Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg‹ im Jahre 1941 am Zürcher Schauspielhaus, mit späterer Nachbearbeitung) feierte in einer Koproduktion mit den

Minions und Clowns

Bühne | William Shakespeare: Der Sturm; Staatstheater Darmstadt Das Staatstheater Darmstadt hat sich zum Spielzeitauftakt gleich einer großen Herausforderung gestellt: Regisseure Christian Weise hat William Shakespeares ›Der Sturm‹ auf die Bühne gebracht und als farbig sowie musikalisch buntes Stück inszeniert, wobei einige Schauspieler mehrere Rollen übernehmen und auch mit den Geschlechterbildern – was sowohl typisch für gegenwärtige Shakespeare-Aufführungen als auch für das Darmstädter Theater ist – ironisch spielen. PHILIP J. DINGELDEY hat sich die Premiere im Kleinen Haus am 17. September des Stücks über Rache, Zorn und Machtstrukturen belustigt, aber auch leicht enttäuscht angesehen.

Finnland und die orchestrale Musik – ein Herbstmärchen

Live | Musik: Stratovarius & Tarja Turunen: A Nordic Symphony Die einen umjubelt von der »Symphonic Metal Scene« in Finnland und die andere dank ihrer Ära bei ›Nightwish‹ eine international bekannte Metal-Sopranistin. Bei der gemeinsamen Tour von Stratovarius und Tarja Turunen darf man sich auf etliche Überraschungen freuen. Zusammen haben sie mit ihrem Mix aus progressivem Metal kombiniert mit eingängigen Melodien ein ganz eigenes Genre geprägt. ANNA NOAH freut sich über einen geglückten Auftritt.

Bis auf die Haut geschorene Schafe

Theater | Oliver Bukowski: Ich habe Bryan Adams geschreddert – Deutsches Theater Göttingen Ein Abend mit dem  Deutschen Theater. Da sag ich nicht nein. Pünktlich auf die Minute stand ich vor dem fein angeleuchteten Gebäude und drängte mich an der Schlange kartenkaufwilliger Menschen vorbei. Ein paar kleine Smalltalks am Pressestehtisch später hatte ich meine Karte und von mir aus konnte die Show losgehen. Von SVEN GERNAND

Kafka auf dem Stuhlberg

Bühne | Kafka/Heimkehr: Staatstheater Wiesbaden Ganz unkonventionell beginnt die Aufführung bereits in der Theaterbar: Ein Schauspieler setzt sich auf die Bar, und ein anderer beginnt zu erzählen: Er rezitiert nichts Geringeres als Franz Kafkas Erzählung ›Das Urteil‹; der Sitzende spielt das Erzählte als Protagonist Georg Bendemann nach. Erst als der sich in das Zimmer seines Vaters begehen will, wird das Publikum von den Darstellern durch lange, dunkle, staubige Gänge in den Theatersaal der Wartburg in Wiesbaden geleitet. Der Regisseur Jan Philipp Gloger hat sich für das Staatstheater Wiesbaden ein gigantisches Projekt vorgenommen, mit dem Titel ›Kafka/ Heimkehr‹, benannt nach Kafkas