Zürich in Farbe

Comic | Andreas Müller-Weiss: Der Farbanschlag

Der Comickünstler Andreas Müller-Weiss hat seinem Studienort ein Denkmal gesetzt. In dem Album ›Der Farbanschlag‹ spielt eine Stadt die Hauptrolle, deren Straßenzüge und Bauwerke, Kirchen und Kunstwerke, Flussläufe und Parks mit historischer und symbolischer Bedeutung aufgeladen werden. Allerdings ist diese Stadt nicht London, Paris oder Berlin: Es ist das beschauliche Zürich. BORIS KUNZ hat auf den Comicseiten für Sie recherchiert.

ZürichFarbEine düstere Gestalt in Trenchcoat und Mantel, die an einen Schurken aus einem Film Noir erinnert, schleicht eines Nachts im September 1937 durch die Innenstadt von Zürich und bewirft bestimmte Gebäude mit Farbflaschen. Sonderlich unauffällig stellt er sich dabei nicht an und wird auch prompt von der Polizei aufgegriffen. Beim Verhör behauptet der Mann, der sich als arbeitsloser Maurer und Anstreicher namens Umberto Campi zu erkennen gibt, der Anschlag sei nur eine Warnung, und im Spätherbst würde noch viel Schlimmeres geschehen. Danach müssen Wachtmeister Studerer und Polizeiassistentin Gilg den Mann laufen lassen, versuchen jedoch im Anschluss herauszufinden, was hinter den Drohungen von Campi stecken könnte.

Umstrittene Figuren

Ihre Ermittlungen sind der rote Faden, der durch die Geschichte führt, und im Zuge derer Studerer und Gilg auf eine ganze Reihe prominenter Gestalten aus der damaligen Kunst- , Architektur- und Politikszene treffen. Die einzig fiktive Figur ist dabei tatsächlich der Verdächtige Campi – alle Anderen (bis hin zu den Ermittlern) hat es so oder so ähnlich wahrhaftig gegeben, und vielen von ihnen hat Müller-Weiss die Dialoge auch nicht einfach in den Mund gelegt, sondern den von ihnen publizierten Schriften, Vorträgen und Pamphleten entnommen.

Im Zentrum steht dabei der Maler Augusto Giacometti (ein Verwandter des berühmten Bildhauers Alberto Giacometti), von dessen zahlreichen Fresken in ganz Zürich heute vor allem noch die Eingangshalle einer Polizeiwache zu bewundern ist. Er gilt nicht nur als »herausragender Maler in der Nachfolge des Jugendstils und des Symbolismus, als Erneuerer der Glasmalerei und Exponent der monumentalen Wandmalerei« (Wikipedia): Der »Meister der Farbe«war auch in ein großes, niemals realisiertes, städteplanerisches Projekt namens ›Das farbige Zürich‹ involviert, in dem die Häuserfassaden zahlreicher Plätze der Stadt nach seinem Farbkonzept gestaltet werden sollten. Außerdem scheint er ein Sympathisant des Faschismus gewesen zu sein, hat er doch 1932 Mussolini ein Gemälde geschenkt – was ihn in der Schweiz zwischen den Weltkriegen zu einer durchaus umstrittenen Figur macht.

Abb: edition moderne
Abb: edition moderne
Der historisch versierte Müller-Weiss lässt in seiner Geschichte Kunstkritiker und Pazifisten, Gewerkschaftler, Städteplaner und Futuristen zu Wort kommen, erzählt von Bürgerentscheiden über ein Verbot der Freimaurer und Experimenten zur Herstellung synthetischer Diamanten – und natürlich von Malerei und Architektur, seinem zweiten Spezialgebiet. Das Kuriose dabei ist: Es macht überhaupt nichts, dass die Krimispannung dabei ins Hintertreffen gerät. Der Kriminalfall ist nichts weiter als ein etwas banales Konstrukt, der einen Vorwand liefert für einen unterhaltsamen Spaziergang durch das damalige Zeitgeschehen und seine Diskurse. Ein Comic als beiläufige Geschichtsstunde, getarnt als Verschwörungsthriller und am Ende garniert mit ausführlichem Hintergrundmaterial – auch wenn der Ton seiner Erzählungen meist ein ganz anderer ist, würde vielleicht auch Alan Moore (From Hell) seinen Spaß an diesem Album haben.

Architektur und Anarchie

Schließlich macht Müller-Weiss als Illustrator mit seinen Comicseiten etwas, was in der Zunft der Comiczeichner auch viel zu selten zelebriert wird: Er gestaltet jede Doppelseite als Gesamtkunstwerk und lässt die Sihl (einen Fluss der parallel zum Zürichsee durch die Stadt verläuft) das untere Drittel jeder Seite »überschwemmen«: Der Fluss tritt zwischen den Panels zutage wie ein über die Ufer tretendes Gewässer, und die darin treibenden Gegenstände sind thematisch an die Handlung der jeweiligen Seite angepasst und interagieren auf doppeldeutige Weise mit den Inhalten der Panels.

Dabei haben die Bilder von Müller-Weiss sonst wenig von der Verspieltheit des Jugendstils oder der Düsternis des Symbolismus, sondern erinnern eher an die naive Malerei oder gewisse Kinderbuchillustrationen. Die Einfachheit und Klarheit der Bilder steht so in einem sehr ergiebigen Kontrast zu den komplexen Inhalten der Erzählung und dem von Details überfluteten Seitenaufbau, bei dem das Auge immer einen Moment braucht, um zu entschlüsseln, welche Teile zum Bild und welche zum Hintergrund gehören. So naiv die Bilder auf den ersten Blick wirken, so verschachtelt und eindrücklich erzählen sie auf den zweiten Blick von Strukturen auf unterschiedlichsten Ebenen.

›Der Farbanschlag‹ ist ein ungewöhnliches Comicalbum, das sich schwer einordnen lässt, und das einem Einwohner von Zürich sicher noch einmal doppelt so viel Freude machen wird. Trotzdem muss man weder das noch ein Kunst- oder Architekturexperte sein, um an diesem originellen Kriminalfall und der noch originelleren Seitengestaltung seinen Spaß zu haben.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Andreas Müller-Weiss: Der Farbanschlag
Zürich: Edition Moderne 2014
64 Seiten, 25 Euro

Reinschauen
| Leseprobe
| Über den Autor
| Über Augusto Giacometti

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Life Is Strange

Nächster Artikel

Leben – komprimiert auf 60 Minuten

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Grube im Wald, Abgrund im Herz

Comic | Erik Kriek: Die Grube

Der niederländische Comic-Künstler Erik Kriek hat mit ›Die Grube‹ ein neues Werk vorgelegt, mit der er ins Horrorfach zurückkehrt. Der Band ist jüngst auf Deutsch im Avant-Verlag erschienen, steckt tief im psychologischen Grauen der Kingschen Schule, spielt gekonnt mit seinen Genre-Mechanismen – und ist schaurig schön. Von CHRISTIAN NEUBERT

Conan reloaded

Comic | Conan der Barbar 1 – Die Königin der Schwarzen Küste Autor Brian Wood widmet sich in einer neuen Conan-Reihe den Abenteuern des jungen Cimmeriers und seiner ersten großen Liebe, der Piratenbraut Belit. Beeindruckend in Szene gesetzt wird die Reihe von den taltentierten Künstlern Becky Cloonan und James Harren. Von BORIS KUNZ

30 Jahre »Strapazin«

Comic | 30 Jahre Strapazin Das Comicmagazin Strapazin feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Grund genug für eine Würdigung. Schliesslich zählt es im deutschsprachigen Raum zu den führenden Genre-Heften für Ilustrationen und Comics abseits der Mainstreampfade. VOJKO HOCHSTÄTTER hat einen Blick hinter die Kulissen gewagt und das Strapazin-Atelier besucht. Sehen Sie hier sein Videoportrait.

»Bilder, in denen Blut und Gehirn spritzen, interessieren mich nicht«

Comic | Interview mit Erik Kriek Der niederländische Comic-Künstler Erik Kriek stürzt sich gerne auf morbide, düstere Stoffe. 2013 brachte der Avant-Verlag seine Lovecraft-Adaptionen ›Vom Jenseits und andere Erzählungen‹ in deutscher Sprache heraus. Heuer hat er auf dem Comic Salon in Erlangen sein neues Werk vorgestellt: ›In The Pines – 5 Murder Ballads‹. CHRISTIAN NEUBERT unterhielt sich mit ihm – über seine Arbeitsweise, die Zeitlosigkeit von Horror und das, was dem Unheil vorausgeht.

Der Einsiedler aus Providence und der Zeichner aus Amsterdam

Comic | Erik Kriek/H.P.Lovecraft: Von Jenseits und andere Erzählungen Comiczeichner Erik Kriek hat sich fünf Erzählungen von H.P. Lovecraft vorgenommen – und die klassischen Horrorerzählungen in ein klassisches Comic-Gewand gepackt. Das lässt Liebhaber-Herzen höher schlagen. Auch das von CHRISTIAN NEUBERT.