»Eine Utopie ist der Entwurf einer möglichen, zukünftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist.« Soweit die Definition, gut und schön, aber den Atem raubt einem erst das, was in diesem Bildband zum Thema »Utopie« präsentiert wird. Mit der so nüchtern klingenden Definition hat das dann nämlich nicht mehr viel zu tun, meint BARBARA WEGMANN.
Mit ›Utopia‹ entwarf Thomas More, britischer Staatsmann und Humanist, Mitte des 16. Jahrhunderts das Bild einer Gesellschaft, die von »Toleranz, Einfachheit und Gleichheit« geprägt ist. Der Begriff Utopia stammt aus dem Griechischen und bezeichnet nur einen Ort, den es eigentlich gar nicht gibt. Heute gebrauchen wir diesen Begriff oft, wir bezeichnen damit etwas, das in weiter Ferne liegt, unvorstellbar ist, zwar schön, aber nicht realisierbar scheint. Eine Utopie liegt im Bereich der Träume, der Fantasien und schafft dennoch unvorstellbare Kräfte, nichts unversucht zu lassen, um Ideen real werden zu lassen. Die Geschichten der Utopien zeugen von der Kraft der Gedanken, der Fantasie und dem unbändigen menschlichen Bestreben, eine bessere Welt, eine gerechtere Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben zu schaffen. Manchmal klappte das, manchmal auch nicht.
Dieses Buch begeistert durch eine fantastische Fülle an Beispielen für Utopien, Utopien, die Denken und Handeln befeuerten, Kreativität, Forschung und Philosophie anheizten. Da gibt es Orte wie Atlantis, Wakanda oder El Dorado, Orte, fern oder nah auf alten Karten, Orte, auf die Ideen, Träume, Hoffnungen und Ideale projiziert wurden. Projekte, deren Grundlagen begeistern, die aber dennoch auch scheitern.
Viele der jeweils kurzen Kapitel reichen in weit zurückliegende Zeiten, andere beschäftigen sich mit utopischen Ideen der Gegenwart oder Utopien, die in die Zukunft reichen. Was wären Wissenschaft und Forschung beispielsweise ohne die Kraft des Glaubens an die Utopie? Ohne den Glauben, die »Grenzen der Vorstellungskraft« sprengen zu können. Ob es Magellan war, der eine Westroute zu den Gewürzinseln suchte, die vermeintlich von Piraten gegründete Republik Libertalia als »Idealform einer Demokratie«, ob es der Kampf um Arbeitszeitmodelle, gleiche und gerechte Löhne ging und geht, nicht selten haben Utopien etwas mit gesellschaftlichem Kampf um bessere Verhältnisse zu tun. Viele große Plätze in Städten wurden zu Sinnbildern für Kampf und Protest der Menschen für Freiheit und bessere Lebensbedingungen. Wie oft wurden und werden diese Proteste brutal niedergeschlagen und wie oft bleiben diese Plätze Sinnbilder für eine Utopie, die manchmal aber Realität wurde. Der Tahir- Platz in Kairo, der Platz des Himmlischen Friedens ins Peking, der Plaza de Mayo in Buenos Aires, der Place de la Bastille in Paris.
»Keine Soldatentruppen werden mehr in die Kriege geschickt, um sich abschlachten zu lassen: Ist diese Idee wirklich so utopisch?« Ist die Reduzierung der Arbeitszeit utopisch? Gleiche Löhne für Männer und Frauen? Naturnäheres Wohnen? Ein Leben im Meer, »auf den Wellen oder tief am Meeresgrund«? Wohnen im Himmel, wie in den ökologischen Wohntürmen in Mailand mit bewaldeten Balkonen? Ein Leben auf dem Mars, auf dem Mond? Ein Leben nach dem Tod?
So viele Beispiele in diesem ausgefallenen Buch, das zum Abenteuer wird und es macht ungeheuren Spaß, es Seite für Seite zu entdecken. Es gibt Auftrieb für manch müde gewordenen Gedanken, es erinnert an Utopien, die einst viel Wagemut erforderten und positive Veränderungen brachten. Und es erinnert an Utopien, die auch heute nicht in Schubladen landen sollten. »In Indonesien etwa wird Abfall in Kapital verwandelt. In Frankreich wurde aus einem anfänglichen Hirngespinst eine funktionierende Sozialversicherung. Und die Plattform Wikipedia (…) entwickelte sich in wenigen Jahren zur gewaltigsten Enzyklopädie der Welt«. Und mal ehrlich: Hätte man jemandem vor wenigen Jahrzehnten gesagt, man könne mit einem Gerät, so groß wie eine Zigarettenschachtel, telefonieren und dabei spazieren gehen? Die Antwort wäre klar gewesen: Das ist doch Utopie! Utopie mag bedeuten, dass Ideen verrückt, Pläne abstrus, Vorstellungen nicht ernst zu nehmen sind, aber in dem Wort liegt auch die unsterbliche Aufforderung, nie aufzugeben, das beweisen diese »82 Visionen der Menschheit«.
Fantasie beflügelt, das machen hier 256 Seiten wunderbar klar. Und wer weiß, vielleicht ist der Weihnachtsmann ja auch eine Utopie, aber in Deutschland hat er immerhin mehrere Postämter, »in denen Jahr für Jahr Hunderttausende Briefe ankommen, die von Kindern an ihn geschickt werden.« Und sie werden sogar »von ihm« beantwortet, alles wirklich nur eine Utopie?
Titelangaben
Ophélie Chavaroche/ Jean- Michel Billioud: Atlas der utopischen Welten
82 Visionen der Menschheit
Stuttgart: Kosmos Verlag 2021
256 Seiten, 38 Euro
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