Nach »Mama« und »Papa« folgt bei kleinen Kindern recht schnell ein ganz bedeutendes Wort: »Warum« und man erinnere sich an die wunderbare Klangmelodie, die kleine Knirpse in dieses kurze Wort legen können. Ein Wort, das man später im Leben gar nicht mehr so oft gebraucht, obwohl es doch oft so angebracht wäre, wie letztlich dieses absolut ausgefallene Bilderbuch zeigt. Von BARBARA WEGMANN
Nikolai Popov wurde 1936 in Zentralrussland geboren, erlebte Krieg, Zerstörung, Bombardements der Nazis, Schutzbunker, das Heulen der Sirenen. Mit seinen Freunden sammelte er Bombensplitter, »für uns waren die schweren, glänzenden Metallstücke wunderschön«. Bis einer der Jungen starb, weil ein »besonderer Schatz« explodierte und »ihn für immer als Krüppel zurückließ«. Popov erzählt zu Beginn des Bilderbuches, das bereits 1995 erschien, kurz seine eigene Geschichte. Was dann folgt, sind Bilder, kein Text mehr, man wird allein gelassen, konfrontiert mit immer dramatischer werdenden Bildern, immer dunkleren Farben, mit einer Geschichte, die aufgrund der überaus starken und eindrucksvollen Illustrationen keiner Worte bedarf.
Alles beginnt so harmlos: Eine Maus und ein Frosch sitzen auf einer grünen Wiese, die Stimmung scheint so harmonisch, so friedlich. Bis die Maus ausgerechnet jene Blume haben will, die der Frosch hat, unbeherrscht greift sie den Frosch an, Tritte, Schubsereien, jetzt hat sie die Blume, der Frosch verstört, er kann es nicht fassen. Größere Frösche kommen ihm zur Hilfe, greifen wiederum die Maus an. Aber das Problem ist längst noch nicht gelöst, im Gegenteil, die Spirale der Gewalt nimmt Fahrt auf, es entsteht ein regelrechter Sog der Gewalt, Aggressivität breitet sich aus. Die Maus rekrutiert ebenfalls andere Mäuse im jetzt ausbrechenden Kampf gegen die Frösche. Ein alter Rollschuh wird zum panzerartigen Gefährt, die ersten Kreuze für Todesopfer erscheinen auf den Bildern, die einst friedliche Natur wird zum Schlachtfeld. Und der Gegenschlag der Frösche lässt nicht lange auf sich warten, die jeweiligen Kriegsparteien erhöhen ihre Kontingente an Truppen. Hass, Zerstörung, Vernichtung, jegliche Vernunft scheint ausgeschaltet. Vermutlich weiß schon niemand mehr, worum es eigentlich geht.
Das Bilderbuch ist selbst für Erwachsene sehr ergreifend, und schnell hat man Bilder von zum Beispiel dem gerade hochkochenden so unmenschlichen Konflikt an der polnisch- belarussischen Grenze vor Augen, Menschen, die nichts für politische Konflikte können, werden zum grauenhaften Spielball von Mächten, denen es skrupellos um Macht und Territorialansprüche geht, wie so oft in der Welt. Das Wort »Warum« kommt in den Sinn. Und selbst wenn man in der skurrilen und ausweglosen Situation keine greifbare Lösung sieht: Niemand will nachgeben, einen Schritt zurückweichen, Zugeständnisse machen. Es liegt die Frage in der Luft, wie die Antwort auf das »Warum« aussehen sollte. Mauern, Stacheldraht, Truppenübungen an Grenzen, Gewalt gegen Flüchtlinge, Kriege, Ausbeutung, Folter und Unterdrückung. Warum fragen wir nicht viel öfter »Warum?« Ein so kleines Wort, das aus der Hilfslosigkeit resultiert, das aber Aufmerksamkeit erregt, das zu Antworten zwingt, das zu der Einsicht führen könnte, was für ein Irrsinn sich weltweit zwischen Nationen, Menschen, die gegeneinander kämpfen, abspielt. Ein kleines Wort, das uns, wie es im Nachwort heißt, zeigen soll, »warum wir unsere Welt schätzen sollten und warum wir sie nicht für selbstverständlich halten sollen«.
Ganz unabhängig vom Thema des Buches und Popovs Anliegen ist unbedingt die Kunst erwähnenswert, ohne auch nur ein einziges Wort – außer dem Titel – eine so tief intensive und inhaltsreiche Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die lange nachhallt, viele Assoziationen hervorruft. Die Geschichte sei, so heißt es »eine allzu menschliche, eine allzu bekannte.« Was nicht heißt, dass man das Wort »Warum« nicht immer und immer wieder gebrauchen sollte. Hinterfragen, auf den Prüfstand stellen, innehalten und über Handeln nachdenken.
Popov übrigens, der in Moskau lebt, wurde mehrfach, ganz sicher zu Recht, ausgezeichnet und seine Bilder sind in vielen Sammlungen und Museen zu finden.
Ein sehr ausgefallenes und besonderes Buch, das man mit den Kleinen gemeinsam lesen und besprechen sollte. Auch kleine Kinder bewerfen sich mit Sand und Spielzeug auf dem Spielplatz, tragen ihre Konflikte nicht immer mit friedlichen Mitteln aus, da fliegt schon mal ein Förmchen durch die Gegend, wird im Ärger eine Sandburg des Anderen zerstört, wird dem Gegenüber lautstark klargemacht, wer hier das Sagen hat. Wie wichtig also, friedliche Lösungs- und Verhaltensmuster zu erlernen, und nie den Versuch zu unterlassen, friedlich aufeinander zuzugehen. Kommunikation schließlich bietet so unendlich viel mehr Möglichkeiten, als dem Sog in eine Gewaltspirale zu erliegen.
Titelangaben
Nikolai Popov: Warum?
München: Minedition 2021 (1995; 2015)
32 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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