Doppeltes Aus

Roman | Jenny Erpenbeck: Kairos

Ein Staat liegt in seinen letzten Zügen, und eine Liebesbeziehung geht in die Brüche. Die Rede ist von der DDR und von einem unkonventionellen Paar, das die 54-jährige Berlinerin Jenny Erpenbeck ins Zentrum ihres neuen Romans gestellt hat. So wie die DDR einst mit großen Ansprüchen angetreten ist, so außergewöhnlich und leicht elitär ist auch die Liaison zwischen dem Schriftsteller Hans (Anfang 50) und der Bühnenbildnerin Katharina (19), deren Vita einige Parallelen zu der ihrer Schöpferin Jenny Erpenbeck aufweist. Von PETER MOHR

Kairos von Jenny Erpenbeck
Es begann zwischen Hans und Katharina auf einer Busfahrt im Juni 1986 im damaligen Ost-Berlin. Hans führt seine junge Geliebte in die Ost-Berliner Bohème ein, die als völlig  autonome Lebens- und Gefühlswelt dargestellt wird, wo die Stimmung stets zwischen Revolte und Anpassung, zwischen Avantgarde und sozialistischem Realismus hin- und her wabert. Katharina himmelt den erfolgreichen Schriftsteller an, Hans scheint Heiner Müller-Stücke mit seiner jungen Geliebten im Privatleben nachspielen zu wollen. Alles wirkt überhöht, dramatisch zugespitzt, der Alltag scheint sich in eine Inszenierung zu verwandeln.

Jenny Erpenbeck hat in ihrem Roman das Liebes-Aus und den Untergang der DDR effektvoll in seiner Simultanität dargestellt. Am ersten Abend zitiert Hans zwischen den ersten Küssen mit Katharina ganz schnell »seinen« Brecht und legt Mozarts »Requiem« auf den Plattenteller. Liebe und Tod, Neuanfang und bitteres Ende gehören hier zusammen, und immer wieder gibt es offene oder latente Bezüge zum Dramatiker Heiner Müller. Kein Wunder, denn Jenny Erpenbeck war 1993 Müllers Assistentin bei seiner »Tristan und Isolde«-Inszenierung auf dem Grünen Hügel.

Das ist von Erpenbeck mehr als hoch ambitioniert konstruiert, bisweilen ermüden die Anspielungen bei der Lektüre – und Hans, Katharina und die anderen Figuren drohen ihre eigene Romanidentität zu verlieren und in Theaterfiguren überzugehen.

Auch die Moskaureise des Paares wird aufpoliert wie für einen Hochglanzreisekatalog früherer Jahre. Der einzige Haken: Man glaubt, man sei an der Seine und nicht an der Moskwa. Ja, in diesem Roman ist auch ganz viel von Sehnsüchten die Rede, von der Suche nach dem Außergewöhnlichen.

Das Außergewöhnliche lässt sich aber nur selten mit gelebter Doppelmoral in Einklang bringen. Daran scheitert am Ende die DDR mindestens ebenso kläglich wie die Beziehung zwischen Hans und Katharina.

Hans ist verheiratet, will Frau und Kind nicht aufgeben, während Katharina von ihm  nach einer gemeinsam mit einem jüngeren Mann verbrachten Nacht energisch zur Rede gestellt wird. Sie belaste die Beziehung, lautet die Quintessenz aus Hans‘ Anschuldigungen. »Das ist für sie ein schmerzhafter Prozess, aus dem sie nicht so leicht herauskommt«, bekannte Autorin Jenny Erpenbeck in einem Interview über ihre Romanfigur Katharina.

Als »Kairos« wird  in der griechischen Mythologie ein von Gott bestimmter günstiger Augenblick, um eine Entscheidung zu treffen, bezeichnet. Aber für wen ist der Zeitpunkt günstig?

Während Katharina emotional leidet und am Ende des Romans Hans‘ Stasiakte studiert, analysiert der verkopfte Schriftsteller das Ende wieder bühnenreif: »Widerstand ist es nicht, nur etwas wie Desinteresse, politische Müdigkeit, die zu ihrer Jugend in einem ihm nicht ganz geheuren Missverhältnis steht.«

Jenny Erpenbeck, deren Romane Geschichte vom alten Kind (1999) Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) in über 30 Sprachen übersetzt wurden, hat mit Kairos keinen Pageturner vorgelegt, sondern ein leicht ausfransendes Erzählmonstrum, das nicht gelesen, sondern bezwungen werden will.

Wer sich darauf einlässt, bereit ist, reichlich Zeit für die Lektüre zu investieren und den vielen Querverweisen nachzugehen, der wird reich belohnt – mit einem intelligenten, tiefgehenden Einblick in das Seelenleben zweier höchst unterschiedlicher Figuren in der ehemaligen DDR der ausgehenden 1980er Jahre. Überaus wohltuend: Es gibt weder Schadenfreude noch Besserwisserei. Stattdessen hier und da subtile humoristische Einsprengsel und ein Höchstmaß an emotionaler Authentizität. Ganz sicher einer der aufrichtigsten und besten Romane über den Niedergang der DDR.

| PETER MOHR

Titelangaben
Jenny Erpenbeck: Kairos
München: Penguin 2021
378 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Jenny Erpenbeck in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Untertauchen in eine andere Welt

Nächster Artikel

Mit einem Innehalten kann es beginnen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Auf der Suche nach dem ominösen Selbst

Roman | Nora Haddada: Nichts in den Pflanzen

Partys, Missgunst, Rausch und Neid: Mit Nichts in den Pflanzen schreibt Nora Haddada eine Geschichte, die man kennt – und trotzdem gerne liest. Lektüretipp für ein Frühlingswochenende. Von Sven Beck

Liebeslügen zwischen Leipzig und Lagos

Roman | Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Wenn der Himmel grau über der Stadt hängt und der Tag wenig Verheißungsvolles verspricht, könnte jede am Handy aufploppende Nachricht die Flucht in eine reizvolle Parallelwelt eröffnen. Martina Hefter spielt in ihrem aktuellen Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? verschiedene Lebens- und Realitätsebenen durch. Von INGEBORG JAISER

Ein Jahr nach dem großen Morden

Roman | Chris Hammer: Outback Rivers End, eine Kleinstadt im australischen Nordosten. Noch ein Jahr nach dem grausamen Verbrechen weiß niemand genau, warum der junge Pfarrer Byron Swift vor dem sonntäglichen 11-Uhr-Gottesdienst mit einem Gewehr aus seiner Kirche trat und fünf Männer erschoss, um dann selbst unter den Kugeln aus der Waffe eines Polizisten zusammenzubrechen. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein schweres Beben

Roman | Peter Henning: Ein deutscher Sommer Peter Hennings Roman Ein deutscher Sommer über das Gladbecker Geiseldrama. Von PETER MOHR

Anfang und Ende

Kurzprosa | Barbara Honigmanns: Chronik meiner Straße »Wenn wir sagen, dass wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meistens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt.« So lautet der erste, beinahe programmatisch anmutende Satz in Barbara Honigmanns autobiografischer Skizze über jene Straße im Osten Straßburgs, in der sie seit ihrer Übersiedlung aus Ost-Berlin im Jahr 1984 lebt. Barbara Honigmanns Chronik meiner Straße – in einer Rezension von PETER MOHR