/

Freier Mensch und freies Leben

Gesellschaft | Michael Hirsch: Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!

Das Gefühl, dass Lähmung um sich greift, ist unverkennbar. Dennoch erleben wir im Alltag eine unaufhaltsame Beschleunigung – was ist eigentlich los? Die Lähmung, so Michael Hirsch, in diesem Punkt an Slavoj Zizek anknüpfend, sei verursacht durch den in unseren Köpfen zutiefst verwurzelten Glauben an ›Wachstum‹ und ›Fortschritt‹. Und die Beschleunigung ist das Ergebnis der durch nichts und niemanden gebremsten kapitalistischen Erwerbsorientierung, vulgo Raffgier. Von WOLF SENFF

Michael Hirsch: Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!Dieses ›Manifest‹ reiht sich nahtlos ein in die Tradition von ›Der kommende Aufstand‹ (2010) und von Stephane Hessels ›Empört euch!‹ (2011), auch die Cover-Illustration mit Banksys blumenwerfendem Demonstranten passt. Gut zu wissen, dass Michael Hirsch sich nicht allein auf weiter Flur bewegt, seine Diktion ist unaufgeregt, sachlich, ohne dass man sich zu Aktionismus gedrängt fühlt, sie zeugt von der Gewissheit, dass die eigene inhaltliche Argumentation letztlich für sich selbst spricht.

Grenzen des Wachstums

Es reiche nun einmal nicht aus, so Hirsch, zu sagen, die Verhältnisse seien »krisenhaft«, nein man müsse kompromisslos den Schritt tun, sie als »falsch« zu bezeichnen – nur auf diese Weise verabschiede man so butterweiche Durchhalteparolen wie die einer vermeintlichen ›Alternativlosigkeit‹ und fordere implizit »richtige« Schritte: »Das Leiden, der Mangel und das Elend müssen wirklich artikuliert werden. Sie müssen mit der politischen These eines möglichen Glücks, eines ganz anderen, anders verteilten und anders genutzten Wohlstands konfrontiert werden«.

Das ist Allgemeingut seit spätestens 1972, seit Club of Rome, ›Grenzen des Wachstums‹, und man kann Michael Hirsch nur zustimmen darin, dass in diesem Land eine unglaublich dicht gestrickte Camouflage seit Jahrzehnten den Blick vernebelt, und auch weiterhin sind »alle Anstrengungen der Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur darauf ausgerichtet, dass es irgendwie so weitergehen kann wie bisher«.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Eine Wiederherstellung von Normalität, die »große Sehnsucht unserer Zeit«, sei illusionär. Stattdessen sei erforderlich, Alltagsleben und Kultur von Grund auf zu erneuern. Der ›Muff unter den Talaren‹, der in den sechziger Jahren zum Ziel von Spott und Kritik der nachwachsenden Generation geworden sei, trete heutzutage »smart« auf und »modern, sexy und trendig, geschmeidig im Einwerben von Drittmitteln und in der Erzielung von Einschaltquoten«. Der mediale Mainstream betreibe mit allen Mitteln einen pompösen, glitzernden Aufwand, und dennoch – »die herrschenden Kultureliten sind wie die wirtschaftlichen und politischen Eliten ausgeblutet«.

Hirsch geht es um ein erneuertes gesellschaftliches »Zeitregime«, das nicht auf die als normal vorausgesetzten männlichen Biographien lebenslanger Erwerbsarbeit ziele, sondern über ein bedingungsloses Grundeinkommen hinaus eine vielfältige Entzerrung leiste, eine soziale Neustrukturierung von Arbeit und Einkommen, auf deren Grundlage erst eine Gleichberechtigung der Geschlechter möglich werde. Es dürfe weder von wirtschaftlicher Teilhabe Ausgeschlossene noch ›bildungsferne Schichten‹ geben.

Folgerichtig geht er einen Schritt weiter und wirft der Politik vor, sie reduziere den Menschen auf bloße ›Arbeitskraft‹. Nein, die Politik sei in der Pflicht, den Artikel 1 GG positiv zu interpretieren und »einen freien Menschen, ein freies Leben« zu ermöglichen, es gehe darum, »die überlieferten Bahnen der technokratischen, bürokratischen und kulturindustriellen Routinen zu verlassen«. Es ist gut und außerordentlich wichtig, diese Debatte fortzuführen.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Michael Hirsch: Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!
München: Louisoder 2013
73 Seiten. 13 Euro

Reinschauen
| Pamphlet im besten Sinne – Jörg Fuchs zu Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Pracht und Prunk vergangener Zeiten

Nächster Artikel

Crossing Wires With Timo Maas

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Sie wissen weder ein noch aus

Gesellschaft | Peter & Sabine Ansari: Unglück auf Rezept Für den Außenstehenden ist die Lektüre erschütternd. Man wird das Buch mehrfach beiseitelegen und einen Tag abwarten, bevor man es wieder aufschlägt. Zum Glück gibt es ein Kapitel ›Alternative Behandlungsmöglichkeiten‹. Von WOLF SENFF

Der Nebel des Informationskriegs

Gesellschaft | Quo vadis Wikileaks? Was machen eigentlich die Whistleblower-Plattform »Wikileaks« und ihr nicht unumstrittener Frontmann? Seit Julian Assange in England unter Arrest gestellt worden war, verebbten die Nachrichten rund um den charismatischen Computerspezialisten und brillanten Selbstdarsteller zunächst. Größere Scoops, wie die für Januar 2011 angekündigte Veröffentlichung von brisanten Protokollen aus dem Innenleben der »Bank of America«, waren verpufft. Wegbegleiter haben sich abgewandt und Befürworter sind leiser geworden. Andere Organisationen griffen die Arbeit von Wikileaks mal mehr, mal weniger publikumswirksam und mit wechselndem Erfolg auf. Nun hat sich Wikileaks ungewollt mit einem selbstzerstörerischen Paukenschlag zurückgemeldet. JÖRG FUCHS hat sich in

Ambitioniertes Programm

Gesellschaft | Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz Burkaverbot in Frankreich, Minarettverbot in der Schweiz, Kopftuchverbote bei uns, hitzige Debatten um Moscheebauten, Beschneidung oder rituelles Schlachten – die europäischen Gesellschaften scheinen Amok zu laufen. Muslimische Minderheiten sollen mit ihren Symbolen anscheinend für die katastrophal verfahrene westliche Nahostpolitik büßen. Wie man mit dem auch in den USA wachsenden Muslimhass umgehen könnte, will Martha Nussbaum in ›Die neue religiöse Intoleranz‹ zeigen. Von PETER BLASTENBREI

Philosophie als Lebenskunst

Gesellschaft | Gerhard Ernst (Hg.): Philosophie als Lebenskunst ›O selig dreimal, wer in Darmes Tiefen blickt! Wie leicht entgeht er vor Gericht den Gläubigern, Wer so der Schnacke Darmkanal ergründet hat!‹ So ruft Strepsiades in Aristophanes Komödie ›Die Wolken‹ aus. Der alte Bauer hat Geldprobleme, die Frau suhlt sich im Luxus, der Sohn interessiert sich mehr für teure Pferde als für den Erhalt des väterlichen Vermögens. Alles in allem eine Situation, die im 4. Jahrhundert vor Christi genauso vertraut ist wie heute. Von JULIAN KÖCK

Zur Situation des Widerstands

Gesellschaft | Steffen Vogel: Europa im Aufbruch Steffen Vogel gibt einen kenntnisreichen Überblick über den Stand politischer Bewegungen in den Ländern Europas. Sein Interesse liegt auf dem Widerstand gegen die vorherrschende neoliberale Ausrichtung, »einen Kurs, der letztlich perspektivlos ist«. Vor allem in den südlichen Ländern sieht er starken Widerstand, während in nördlichen Ländern rechtspopulistische Kräfte an Einfluss gewonnen hätten. Von WOLF SENFF