Einfache Antworten auf drängende Fragen

Sachbuch | Imad Mustafa: Der Politische Islam

Seit etwa dreißig Jahren machen sich im Nahen Osten Parteien und Massenbewegungen bemerkbar, die sich explizit auf den Islam als Richtschnur für politisches Handeln beziehen. Vom Westen misstrauisch beäugt und in der Regel als Rückfall in die Vormoderne gewertet, haben islamistische Parteien im sogenannten Arabischen Frühling von 2011 breite Zustimmung in der Bevölkerung erfahren und sind in Tunesien und kurzzeitig auch in Ägypten zu Regierungsparteien geworden. Imad Mustafa stellt in Politischer Islam vier von ihnen vor. Von PETER BLASTENBREI

hisbollah
Seine Beispiele sind die libanesische Hizbollah, die Hamas in Palästina und die beiden ägyptischen Parteien al-Nur und FJP (etwas unglücklich nach der englischen Übersetzung des Parteinamens Freedom and Justice Party). Eine einleuchtende Auswahl, denn al-Nur und FJP sind aus den Muslimbrüdern hervorgegangen wie indirekt ja auch die Hamas, während die Hizbollah die erfolgreichste schiitische Variante des politischen Islam im arabischen Raum darstellt. Ebenso überzeugend ist seine Grundfragestellung: wollen diese Parteien tatsächlich, wie oft unterstellt und teilweise in älteren Parteiprogrammen vertreten, das wörtlich verstandene islamische Recht bestehenden Gesellschaften überstülpen, notfalls mit Gewalt, oder antworten diese Parteien politisch längst auf die realen Erfordernisse dieser Gesellschaften.

Kind der Moderne

Eine beliebte westliche Denkfigur kann Mustafa gleich im ersten Kapitel zerstören. Der heutige politische Islam ist kein Rückfall ins Mittelalter, er ist selbst ein Kind der islamischen Moderne. Ohne Denker wie Dschamál al-Din al-Afgáni (1839-1897) und Muhámmed Ábduh (1849-1905) ist keine der besprochenen Parteien vorstellbar. Die islamischen Reformer suchten fieberhaft nach einer Antwort auf die umfassende Dominanz des Westens ohne eben ihren eigenen kulturellen Rahmen aufzugeben. Ihre Arbeit führte zu einer Neuorientierung des Islam, oft genug gegen die islamischen Autoritäten ihrer Zeit. Ähnliches gilt von Ajatollah Chomeini und dem Libanesen Musa Sadr (1928-1978) auf schiitischer Seite, auf die sich die Hizbollah ideologisch beruft.

Der Autor, in Esslingen geborener Politologe palästinensischer Herkunft, stellt Geschichte und Ideologie dieser vier Bewegungen dar, indem er ältere und aktuelle programmatische Äußerungen im Gegenschnitt mit ihrer politischen Praxis auswertet. Dabei gibt es grundlegende Unterschiede, denn anders als die ägyptischen Gruppen sind Hizbollah und Hamas im Widerstand gegen Israel entstanden; dessen konkrete Bedingungen bestimmten von Anfang an ihre Umsetzung des Islam. Beide Widerstandsbewegungen haben dennoch einen tiefgreifenden ideologischen Wandel hinter sich, die Hizbollah seit ihrer Integration in die libanesische Innenpolitik 1992 und die Hamas seit ihrer Machtübernahme 2006.

Realitätsbezogen und pragmatisch

Diesen Wandel vollzogen die beiden islamistischen Parteien Ägyptens spätestens mit ihrer Legalisierung 2011. Heute kann man trotz bestehender, hier klar herausgearbeiteter Unterschiede und Unklarheiten davon ausgehen, dass alle Gruppen politisch für eine parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung, Schutz der Bürgerrechte und gesellschaftliche Partizipation beider Geschlechter eintreten. Die berüchtigten Scharia-Strafen spielen keine Rolle, Zwang in Glaubensdingen ist verpönt (wörtlich dem Koran entsprechend). Islamisch ist vor allem noch die Hoffnung auf eine langfristige Besserung der Gesellschaft durch innere Mission, d.h. besonders durch Vertiefung des Glaubens bei den Muslimen selbst.

Wenn etwas islamistische Gruppierungen für den Westen akzeptabel macht, dann am ehesten das Fehlen eines ausformulierten islamischen Wirtschaftsmodells. Ein Musterbeispiel für die Übernahme rein westlicher Modelle ist die FJP. Ihre wirtschaftlichen Vorstellungen beinhalten schrankenlose ökonomische Freiheit, Wirtschaftswachstum, unbeschränkten Wettbewerb und Kooperation mit dem IWF. Abgelehnt werden Monopole und Kartelle, jede Form der Staatsintervention, aber auch eine obligatorische Sozialversicherung, an deren Stelle eine rein karitative Sozialfürsorge über freiwillige Almosen, sadaqa, tritt (nicht die verpflichtende islamische Armensteuer zakat!).

Politik und Wirtschaft nach Allahs Willen

Demgegenüber strebt al-Nur eine aktive, auf ägyptische Verhältnisse zugeschnittene Wirtschaftspolitik an: Entwicklung arbeitskräfteintensiver kleiner und mittlerer Betriebe, qualifizierende Berufsausbildung, Ernährungssicherung durch Landwirtschaftsförderung, zinsloses Kreditsystem. Ganz anders Hizbollah und Hamas, die sich beide für das Modell eines umfassend interventionistischen Wohlfahrtsstaates entschieden haben – die Hamas angesichts des israelischen Drucks allerdings vorerst ohne Hoffnung auf Verwirklichung.

Die ägyptischen Parteien antworten mit ihren politischen und wirtschaftlichen Ideen, jede auf ihre Art, auf die Defizite der Mubarak-Diktatur. Völlig unterschiedlich ist die Situation im Süd-Libanon und in Gaza, wo die Widerstandsbewegungen seit langem die Funktionen des notorisch abwesendenen Staates ausfüllen mussten. Es ist nicht schwer zu sehen: die Berufung auf den Islam sunnitischer oder schiitischer Prägung tritt überall, ungeachtet dessen, was offiziell noch im Programm steht, vor den Erfordernissen der Tagespolitik zurück. Pragmatische alltags- und situationsbezogene Politik also im oft kaum wahrnehmbaren islamischen Rahmen statt religiösem Dogmatismus.

Der Autor kann damit systematisch belegen, wofür es einige wenige Vorstudien (z.B. Khaled Hroubs Buch über die Hamas) und ansonsten zahlreiche Indizien gab. Mustafa selbst ist kein Freund islamischer Politik und er verschweigt auch nicht, wo Positionen dieser Parteien unzulässig vage bleiben oder Anlass zu kritischen Nachfragen geben, etwa bei der Garantie der Freiheitsrechte für die islamische Gemeinschaft (umma) statt für das Individuum bei al-Nur. Er geht aber mit der spröden und komplexen Materie fair und sehr kenntnisreich um und er kann sehr schwierige Sachverhalte am Schnittpunkt von Theologie, Staatsrecht und Politik verständlich machen. Vieles, was heute im Nahen Osten vorgeht, begreift man besser, wenn man dieses Buch kennt.

| PETER BLASTENBREI

Titelangaben:
Imad Mustafa: Der Politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hisbollah
Wien: Promedia 2013. 232 Seiten. 17,90 Euro

Diskussionsveranstaltungen mit Imad Mustafa:
Dienstag, 19. November 2013 ab 19 Uhr
im EineWeltHaus, Schwanthalerstr. 80 RGB, 80336 München

Donnerstag, 21. November 2013 ab 18 Uhr
Universität Salzburg, Hörsaal Anna Bahr-Mildenburg, E.004, Erzabt Klotz Straße 1, Erdgeschoß, 5020 Salzburg

Freitag, 22. November 2013 ab 19 Uhr
Afro-Asiatisches Institut, Leechgasse 22, 8010 Graz

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Mausoleum des Grauens

Nächster Artikel

Some House Based Grooves to Cheer Up Your Autumn!

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Anwesende Abwesenheit

Gesellschaft | Inge Jens: Langsames Entschwinden Als der große Denker und Rhetorikprofessor Walter Jens an Demenz erkrankte, war die Krankheit noch weitgehend mit einem Tabu belegt und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wenig präsent. Auch Inge Jens musste erst lernen, nach und nach mit der Diagnose und dem wachsenden Einschränkungen ihres Ehemannes umzugehen. ›Langsames Entschwinden‹ vereint eine Sammlung ausgewählter Briefe aus acht Jahren mit einem mutigen und klugen Plädoyer für eine angemessene Pflegesituation. Von INGEBORG JAISER

Ambitioniertes Programm

Gesellschaft | Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz Burkaverbot in Frankreich, Minarettverbot in der Schweiz, Kopftuchverbote bei uns, hitzige Debatten um Moscheebauten, Beschneidung oder rituelles Schlachten – die europäischen Gesellschaften scheinen Amok zu laufen. Muslimische Minderheiten sollen mit ihren Symbolen anscheinend für die katastrophal verfahrene westliche Nahostpolitik büßen. Wie man mit dem auch in den USA wachsenden Muslimhass umgehen könnte, will Martha Nussbaum in ›Die neue religiöse Intoleranz‹ zeigen. Von PETER BLASTENBREI

Israel: Eine Erfolgsgeschichte?

Gesellschaft | Ari Shavit: Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels Unsicherheit ist das prägende Gefühl im Israel der heutigen Zeit. Das Land, das als jüdische Insel im islamisch-geprägten Nahen Ostens liegt, sieht sich mit externen, aber auch internen Bedrohungen konfrontiert. Wie es in Zukunft um die Sicherheit des Staates steht, bleibt offen. Um zu ergründen, warum sich sein Heimatland aktuell in einem Zustand der Ungewissheit befindet, hat der Journalist Ari Shavit eine Zeitreise angetreten und den Weg hin zum heutigen Israel nachgezeichnet. Von STEFFEN FRIESE

Metaller vom anderen Kontinent

Gesellschft | Rodolfo Walsh: Wer erschoss Rosendo García? 23.07.2012 Mit Wer erschoss Rosendo García? bringt der Züricher Rotpunkt Verlag jetzt das dritte Buch des großen argentinischen Schriftstellers und Journalisten Rodolfo Walsh heraus. Es ist eine messerscharfe Analyse des »Dramas der peronistischen Gewerkschaftsbewegung nach 1955« und gleichzeitig, auch nach über vierzig Jahren, ein faszinierendes Stück Literatur. Von PIEKE BIERMANN

Ausgebuffte Kampagnen

Sachbuch | Peter Strutynski (Hg.): Töten per Fernbedienung. Kampfdrohnen im weltweiten Schattenkrieg Plumpe, dumme, nein dümmste Marketingstrategien sind bemüht, unser Handeln und unseren Blick auf die Welt zu steuern. Wir können das bedauern. Ändern? Wir können nur immer von neuem versuchen, uns nicht mitziehen zu lassen. Gibt ne Menge Namen dafür. Neulich sagten wir noch Werbefeldzüge, davor gab’s das Wort Propaganda. Die Sprachregelung der Political Correctness hat sich feines Tuch angetan und lernt von den krawattentragenden Usançen des Consulting, man spricht von »Präsentation«. Die Tatsachen sind unverändert. Von WOLF SENFF