Die Zukunft – so schön, wie sie früher war

Comic | Vincent Perriot: Negalyod

Vincent Perriots Comic ›Negalyod‹ ist ein bildgewaltiger Endzeitwestern, für dessen zeichnerische Umsetzung der große Jean »Moebius« Giraud Pate stand. Er hat CHRISTIAN NEUBERT sofort in die Wüste geschickt – wo er sich gerne umgesehen hat.

Negalyod Na hoppla: Die Tür, mit der der Comic ›Negalyod‹ bereits mit seinem Coverartwork ins Haus fällt, führt direkt in glorreiche Comic-Tage der Vergangenheit – obwohl er doch von der Zukunft erzählt. Ein erstes Durchblättern bestärkt den Eindruck: Der 35-jährige französische Comic-Künstler Vincent Perriot wandelt unverkennbar auf Spuren, die das französische Comic-Magazin ›Métal Hurlant‹ in den Siebziger Jahren hinterließ – und deren deutsche Lizenzausgabe als ›Schwermetall‹ in Serie ging.

Gerade der unsterbliche Jean Giraud alias Moebius stand ›Negalyod‹ offenkundig Pate. Das bezeugen die in panoramagroßen Panels festgehaltenen Wüstenlandschaften, die selbst in ihren flächigen Weiten noch detailverliebte Nuancen erkennen lassen. Die überbordend ausgestaltete Architektur zukünftiger Städte. Der Retrofuturismus der Waffen und Gerätschaften, der Kleidung sowie der Flug- und Fahrzeuge – und nicht zuletzt die Dinosaurier, die Perriots Zukunftsszenario bevölkern.

Western von gestern als Zukunftsmusik

›Negalyod‹ ist ein bildgewaltiger Endzeitwestern, eine düstere Dystopie in knallig-kräftigen Farben, für die Perriot Florence Breton gewinnen konnte, die – da ist er wieder – bereits für Moebius kolorierte. Dinosaurier sind dort sowohl die Pferde als auch die Rinder von Menschen, die entweder nomadisch leben oder in überbevölkerten, unterirdischen angelegten Städten. In eines dieser ausgedörrten, vor Einwohnern wimmelnden Ballungszentren verschlägt es Jarri, einen jungen Hirten, der die Sprache der Dinosaurier beherrscht.

Das Motiv seines Besuchs: Rache. Er folgt den Rohrleitungen, die das letzte verbleibende Wasser aus dem staubigen Boden gen »Station 3703« pumpen. Dort vermutet der jene, die seine komplette, über 100 Tiere zählende Chasmosaurierherde auf dem Gewissen haben.

Was er stattdessen findet: den »Großen Kam«, den besonnen scheinenden Anführer einer revolutionären Gruppierung, die drauf und dran ist, aus dem Untergrund heraus gegen die Obrigkeit aufzubegehren. Und zwar ganz wörtlich: Die Unterstadt dürstet, die Oberstadt hat Wasser – und über allem schwebt der technologische Geist des »großen Netzes«, das offenbar alles beherrscht und über Gedeih und Verderb entscheidet.

Der Konflikt scheint unvermeidlich, bricht sich Bahn. Vieles andere jedoch entwickelt sich anders, als es zunächst erscheint. Und mittendrin? Ein Fremder in einer großen Stadt – und gar nicht mal so arglose Dinosaurier.

Dynamische Dino-Dystopie

›Negalyod‹ wildert in populären Genre-Gefilden. Gerade wenn er es knallen lässt, fühlt man sich mehr oder weniger stark an ›Star Wars‹, ›Mad Max‹ und ›Nausicaä‹ erinnert. Der Comic erlaubt sich überall dort narrative Freiräume, wo rein auf die Erzählkraft der Bilder gesetzt wird.

Negalyod

Die Story selbst, die von Ausbeutung von Mensch und Umwelt erzählt, erhebt sich zwar nicht aus konventionellen Mustern, punktet allerdings mit einem durchdachten Twist – und natürlich mit der schieren, fantasievollen Opulenz ihrer zugrunde liegenden Bilderwelt. Die bügelt alles aus, was an ›Negalyod‹ eher flach bleibt – und nichts anderes bietet als große Kunst.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Vincent Perriot: Negalyod
Aus dem Französischen von Marcel Le Comte
Hamburg: Carlsen 2019
208 Seiten, 28 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine Reise durch das Innerste

Nächster Artikel

Ausguck, Fußball

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Dekonstruktion des Superhelden

Comic | Kevin Smith (Texte)/ Phil Hester (Zeichnungen): Green Arrow: Auferstehung Ein Superheld ist von den Toten auferstanden, und zwar in dualer Hinsicht: Green Arrow war zum einen lange Zeit ein Comic-Superheld, der in Relation zu anderen DC-Protagonisten tendenziell weniger präsent war im öffentlichen Bewusstsein. Spätestens seit der TV-Serie ›Arrow‹ hat sich dies geändert. Doch zum anderen erlebte er auch tatsächlich eine Auferstehung innerhalb des DC-Universums. Von PHILIP J. DINGELDEY.

Es muss nicht immer Mittelerde sein

Comic | J. Williamson, A. Bressan: Birthright Band 1 / Nate Simpson: Nonplayer / M. L'Hermenier, Looky & Dem: Die Schöne und das Biest

Dass Fantasy mehr zu bieten hat als Elfen, Zwerge, Trolle, Drachen und schwertschwingende Barbaren ist längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem ist es nicht immer leicht, Werke zu finden, die dem im letzten Jahrzehnt so stark beackerten Feld Früchte abtrotzen, die eine neue Geschmacksrichtung haben. BORIS KUNZ hat sich ein paar Comics angesehen, die diesen Versuch unternehmen.

Fragmente der Abwesenheit

Comic | Antonia Kühn: Lichtung Der kleine Paul kann sich kaum an den ein paar Jahre zurückliegenden Tod seiner Mutter erinnern. Gibt es eine Lichtung im Schatten der Erinnerung? In ihrer ersten größeren Comicerzählung ›Lichtung‹ blickt Antonia Kühn einfühlsam und vielschichtig unter den schwarzen Schleier, der die Erinnerungen des kleinen Paul und seiner Familie trübt. Von BIRTE FÖRSTER

»Hello, my name is Sue«

Comic | Kirkman/Howard: Super Dinosaur Es gibt Charaktere, die können alles, wissen alles und schweben ungefähr drei Meter über dem Rest der normalsterblichen Masse. Sherlock Holmes ist einer dieser teilweise unerträglichen Alleskönner, und Derek Dynamo ist der neueste Spross dieses modernen Archetyps: Er ist zehn, Genie und hat einen intelligenten T-Rex in einer Kampfrüstung als Freund, mit dem er schurkischen Dinosauriern und anderen bösen Buben aufs Maul gibt. PETER KLEMENT bittet anhand von Super Dinosaur zu einer Reise in die Welt der Tropen.

Ein kleines Großstadtabenteuer

Comic | Michael Cho: Shoplifter. Mein fast perfektes Leben. ›Shoplifter‹ heißt die deutsche Erstveröffentlichung des südkoreanisch-kanadischen Zeichners und Erzählers Michael Cho. Für ANDREAS ALT eine gut gemachte, vielversprechende Stilübung.