Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world
Was ist hier eigentlich los? Die Golden Twenties hatte ich mir anders vorgestellt. Vielleicht sind sie in meiner Vorstellung auch nur romantisiert. Niemand hat gesagt, dass die Golden Twenties leicht waren. Hanau, Brexit und Corona und es ist gerade erst März. Und jetzt kann ich mir noch nicht einmal mehr den Frust von der Seele tanzen oder über das Musik-Event schreiben, das ich eigentlich besuchen wollte. Von LOUISE RINGEL
Stattdessen heimwerken, lesen und mir neue Beschäftigungen suchen. Spannendes – wie töpfern vielleicht. Eigentlich klingt das gar nicht übel. Entschleunigung. Aber bei all der Friedlichkeit in meinen vier Wänden hat das Corona-Virus Folgen über die für das Gesundheits- und Bildungssystem oder die Wirtschaft hinaus. Auch Musiker*innen, Clubveranstalter*innen und Kulturveranstalter*innen spüren jetzt schon Konsequenzen. Wie diese aussehen und was wir tun können.
Konzerte, Partys und jegliche Kulturveranstaltungen – alles steht still und es ist unklar für wie lange. Das ist natürlich schade für die Besuchenden und Veranstalter*innen und Musiker*innen, aber die Maßnahmen sind wichtig und richtig. Es hat höchste Priorität die Gruppe der besonders Gefährdeten zu schützen, die möglichen Ansteckungssituationen zu minimieren und den Verlauf der Pandemie herauszustrecken, die Kurve abzuflachen, damit das Gesundheitssystem eine Chance hat, dem Virus gewachsen zu sein.
Aber es stehen Existenzen langfristig auf dem Spiel und das sollte nicht unerwähnt bleiben. In der Musik- und Kulturbranche hängen, wie überall, die verschiedensten Arbeitsplätze miteinander zusammen und sind allesamt betroffen. Ob Veranstalter*innen, Musiker*innen, Labels oder Buchungsagenturen. Sie haben auf der einen Seite das Problem der immer noch bestehenden Kosten für Technik, Veranstaltungsorte und Personal und auf der Seite das Ausbleiben der Einnahmen aus Ticketverkäufen, Eintrittsgeldern, physischen Tonträgern, Merchandise oder Lizenzgebühren. Besonders hart trifft es mittelgroße und kleine Veranstalter*innen und freischaffende Musiker*innen, die meistens von der Hand in den Mund leben.
Die Kultur- und Clublandschaft ist ohnehin bedroht. Seit Jahren schließen Clubs am laufenden Band und wurden im Zuge der Gentrifizierung ihrem eigenen Hype zum Opfer. Es klingt wie ein Paradoxon: Mieterhöhungen, sich beschwerende Anwohner*innen und Investor*innen, denen die Clubs ein Dorn im Auge sind. Dabei sind es unter anderem die Clubs, die die Standpunkte attraktiv gemacht haben. Das Clubsterben sorgt seit Jahren Betreibende und Besuchende und stand in diesem Jahr zum ersten Mal auf der Agenda des Bundestags. Eine Forderung lautet, Clubs als Kulturorte anzuerkennen. Bisher gelten sie als Vergnügungsstätten, sind also in einer Kategorie mit Spielotheken und Bordellen. Ein schlechter Witz für alle, die wissen, dass Musiker*innen in diesen Clubs Kunst schaffen. Jedenfalls trifft das Corona-Virus dort gerade eine Szene, die sowieso um ihr Überleben kämpft. Lutz Leichsenring von der Berliner Clubcommission, sagte ze.tt letzte Woche, viele Clubs würden maximal zwei Wochen durchhalten.
Und da sprechen wir bisher nur von Clubs. Die wirtschaftlichen Folgen eines »Kultur-Shutdowns« treffen ein großes Netz an Menschen und das veranschaulicht, dass Kunst und Kultur nicht unser Wohlstandsbauch sind, auf den wir eigentlich verzichten könnten. Wie Jan Böhmermann ganz richtig twitterte: »Kultur und Kunst sind kein Luxus! Wer Banken rettet, muss auch jetzt helfen!«
Was nun? In seinem Post fordert Böhmermann die Politik zu finanzieller Unterstützung auf und das ist es auch, was viele weitere fordern. In der Umsetzung könnten Hilfsfonds, temporäres bedingungsloses Grundeinkommen für Freischaffende und Künstler*innen oder eine Art Kurzarbeitergeld sein. Es gibt bereits Petitionen, die sich an Bundesfinanzminister Olaf Scholz richten und diese Forderungen enthalten.
Für alle, die nicht gerne großen Aufwand betreiben, aber Kunst, Kultur und Kreativität wertschätzen (oder eben nicht, aber dafür Sorge um die wirtschaftlichen Konsequenzen haben), ist die Petition eine relativ niedrigschwellige Möglichkeit der Unterstützung. Ich weiß, dass viele momentan finanzielle Sorgen haben, aber für die, die es sich leisten können, wären auch Spenden und das Kaufen von Merchandise und physischen Tonträgern eine Art der Hilfe. Ja, in den meisten Onlineshops kann man trotzdem einkaufen. Oder bereits gekaufte Tickets nicht zurückgeben. Sie behalten ihre Gültigkeit und die Konzerte werden nachgeholt, da kann die Vorfreude noch ein bisschen gären. Es gibt sogar eine Initiative dazu: #AktionTicketBehalten.
Und selbst wenn alle diese Hilfen genutzt werden, bleibt der Gedanke, in den nächsten Wochen (oder mehr?) keine der Veranstaltungen besuchen zu können, traurig. Aber selbst dafür haben clevere Menschen eine Lösung gefunden, die sich United We Stream nennt. Die Berliner Clubszene hat sich zusammengeschlossen und einen virtuellen Club ins Leben gerufen und ist damit in puncto Digitalisierung vielen deutschen Schulen und Universitäten voraus. Seit Mittwoch werden jeden Abend aus einem anderen der bekannten Clubgrößen in Berlin DJ-Sets gestreamt. Dabei haben die Clubs die Unterstützung von arte concert, dem Institut für Bildbewegung, radioeins und weiteren Partnern. So viel Solidarität und Erfindungsreichtum machen mich optimistisch und auch ein bisschen sentimental. Vielleicht der richtige Moment, um auf der Website von United We Stream zu spenden und mich darauf zu freuen, dass die Tanzfläche heute meine ganz private ist.
Vielleicht nur die Quarantäne-Variante, also etwas abgespeckter und im eigenen Wohnzimmer auf dem Teppich statt auf der klebrigen Tanzfläche voller Trubel, aber vielleicht klammern wir uns auch nur immer verzweifelt an das, was wir gewohnt sind. Manchmal geht es um Anpassungsfähigkeit und meistens entsteht aus ungewohnten Situationen auch ganz Großartiges.
| LOUISE RINGEL
Reinschauen
| Petition »Hilfen für Freiberufler und Künstler während des ›#CORONA-Shutdowns‹« (auf openpetition)
| Petition »Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen durch die Coronakrise« (auf change.org)
| #AktionTicketBehalten (auf Facebook)
| #UnitedWeStream