Wirbelstürme im Kopf

Roman | António Lobo Antunes: Für jene, die im Dunkeln sitzt und auf mich wartet

Wenn im Herbst das Rätselraten um die Nobelpreiskandidaten in die heiße Phase geht, wird seit fast zwei Jahrzehnten sein Name stets ganz besonders hoch gehandelt: der 77-jährige portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes, der lange als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Lissabon arbeitete. Von PETER MOHR

Für jene die im Dunkeln sitztIm neuen Roman steht eine demente Schauspielerin im Mittelpunkt. Lobo Antunes hat immer schon höchst assoziativ geschrieben. Nun hat er sich durch seine Figur die Legitimation verschafft, alles noch stärker ineinanderfließen lassen zu dürfen. Erinnerungen, Gegenwart, Wahnvorstellungen und Fragmente aus der Vergangenheit lassen ein sehr disparates Bild der einstigen Theaterschauspielerin entstehen, die schon in jungen Jahren davon träumte, sich in viele Figuren aufzuspalten, aber auch von handfesten Ängsten, den Text zu vergessen oder die Stimme zu verlieren, geplagt wurde.

Lobo Antunes‘ erzählerischer Prolog erstreckt sich über vier Seiten – ein einziger, ellenlanger Satz, der dem Leser nicht nur formal schon auf den ersten Seiten die Richtung vorgibt, sondern ihn auch mit der hochartifiziellen Diffusität des Erzählens vertraut macht. Ein Roman, der sich nur für durchtrainierte Leser eignet, die bereit sind, an die eigenen Grenzen zu gehen.

Die Schauspielerin »begegnet« in ihren Kindheitserinnerungen ihrer häkelnden Mutter, die eine Schürze mit Hundemuster trug. Dieser Hund beginnt plötzlich zu bellen und löst hektische Betriebsamkeit aus. Aber auf welcher Erzählebene? Reale Erinnerung? Krankheitsbedingte Abnormalität? Künstlerische Fantasie? Und dann ist noch davon die Rede, dass die Schauspielerin irgendwann zwischen Konservendosen in einer Kiste geschlafen hat.

Ab und an gibt es Einschübe über den realen Alltag, in dem eine Haushälterin und ein Neffe des verstorbenen Ehemannes auftreten. Die Protagonistin hört Gespräche zwischen den beiden Personen und einem behandelnden Arzt. Alles wie aus weiter Ferne, Fetzen werden aufgeschnappt, einzelne Worte, die sich aber im Kopf der Hauptfigur nicht dechiffrieren lassen. Es ist gerade so, als tobe ein Wirbelsturm im Kopf. In »hellen« Augenblicken wird der Verlust der eigenen Steuerungsfähigkeit konstatiert. Die Frau sieht sich bei ihrer Persönlichkeitsauflösung – wenn auch mit getrübtem Blick – selbst zu.

Lobo Antunes‘ langjährige Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann hat vor einigen Jahren einmal treffend erklärt, dass es so schwierig mit diesen Romanen sei, weil man unentwegt traurigen, gebrochenen Figuren begegnet. »Sie ist neulich von mir abgefallen, und ich kann sie nicht mehr finden, wahrscheinlich ist sie unter das Bett gerollt oder für immer in irgendeiner Spalte verschwunden«, heißt es im saudade-fado-typischen Lobo Antunes-Stil über die verlorene Hoffnung.

In diesem Roman hat der bedeutende portugiesische Schriftsteller, der ungekrönte König der Polyphonie, seine großen psychoanalytisch-medizinischen Kenntnisse und sein beinahe anarchisches Formverständnis perfekt vereint.

Selten hat ein Roman bei der Lektüre solch große Verstörungen ausgelöst und so vehement am Fundament unserer Psyche gekratzt. Nichts ist mehr gewiss, alles ist in der Schwebe, eine schmerzhafte, opulente, erzählerische Kreisbewegung und am Ende taucht – wie aus einem wabernden Nebel der Demenz – eine Erkenntnis auf, die uns schon in der Werbung suggeriert wurde: Nichts ist unmöglich. Weder in der Literatur noch in unseren Köpfen.

| PETER MOHR

Titelangaben
António Lobo Antunes: Für jene, die im Dunkeln sitzt und auf mich wartet
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
München: Luchterhand Verlag 2019
431 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bescheiden, aber engagiert

Nächster Artikel

Der mühsame Aufstieg auf den Mont Blanc

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Auf den Grund des Lebens gesehen

Menschen | Zum 75. Geburtstag des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas am 14. Oktober erschien ›Aufleuchtende Details‹ Der Schriftsteller Péter Nádas ist ein Mann der Extreme und mit konventionellen Maßstäben kaum zu messen. Er liebt seine Geburtsstadt Budapest ebenso wie die Abgeschiedenheit seines Dorfes Gombosszeg, wo er seit fast dreißig Jahren lebt, er ist einer der großen gebildeten Enzyklopädisten und tritt dennoch vornehm zurückhaltend auf, er schreibt keine zeitgeistkonforme Fast-Food-Literatur, sondern opulente Wälzer, die nicht gelesen, sondern bezwungen werden müssen. Von PETER MOHR

Auf Marcel Prousts Spur

Roman | Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen Bis zur Lektüre von ›Der Hase mir den Bernsteinaugen‹ habe ich nicht gewusst, was Netsuke sind. Musste man ja auch nicht. Aber jetzt weiß ich, dass es sich dabei um das ästhetische »Fingerfood« kleiner japanischer Holz- & Elfenbeinschnitzereien handelt & dass der Londoner Keramikprofessor (auch ein akademischer Grad, von dem ich bislang noch nie etwas gehört hatte) Edmund de Waal 264 Stück Netsuke besitzt, deren Lebensweg er in seinem grandiosen Buch (dem kein zweites dieser Art »aus seiner Feder« folgen dürfte) beschreibt. Der Titel gebende ›Hase mit den Bernsteinaugen‹ ist

Leute, chillt ma, echt jetzt!

Roman | Adriana Altaras: Doitscha Was tun, wenn der halbwüchsige Sohn Partisan oder Zionist oder am besten beides werden will? Wenn er sich gleichermaßen befähigt fühlt, die Palästinafrage und die Eurozonenkrise zu lösen? Adriana Altaras beschreibt in ihrem neuen Roman Doitscha eine deutsch-jüdische Familienaufstellung nebst turbulenten Pubertätskämpfen. Von INGEBORG JAISER

Von anständigen Dieben und diebischen Ehrenmännern

Roman | Ross Thomas: Das Procane-Projekt / Zu hoch gepokert

Fünf Romane hat Ross Thomas (1926-1995) unter dem Pseudonym Oliver Bleeck geschrieben. In ihnen allen steht der Wiederbeschaffungsexperte Philip St. Ives, ein enddreißiger Ex-Reporter mit Dandy-Appeal, im Mittelpunkt. Das Procane-Projekt ist Nummer 3 und erschien im Original 1971 unter dem Titel The Procane Chronicle. Zu hoch gepokert folgte 1974 als vierter Fall für St. Ives unter dem Originaltitel The Highbinders. Um eine Chronik der besonderen Art geht es im ersten Roman. Um ein Schwert von historischer Bedeutung im zweiten. Einfach wird es für Thomas‘ Helden in keinem der beiden Fälle. Denn wo es um viel geht, wollen meist auch viele ein Stück vom Kuchen abhaben. Von DIETMAR JACOBSEN

Konterfei der Scheinheiligkeit

Roman | Alois Brandstetter: Aluigis Abbild Inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges bittet eine Witwe einen berühmten Maler um ein Porträt ihres seliggesprochenen Sohnes. Alois Brandstetters Briefverkehr zwischen Rubens und der Donna Marta Tana di Santena liest sich wie ein leicht ironisierendes Sittengemälde aus dem Barock, ein Wirrwarr aus Carpe Diem und Memento Mori. Doch so wie Aluigis Abbild nicht fertiggestellt wird, verliert sich auch der amüsierte Plauderton in barocken Nichtigkeiten. VIOLA STOCKER wird Zeugin einer Zerstreuung.