›Das Land der Anderen‹ verknüpft auf beeindruckende Weise Kolonialgeschichte und Familienhistorie, kulturelle Gegensätze und die Suche nach den eigenen Wurzeln. Die erfolgreiche Prix-Goncourt-Preisträgerin Leïla Slimani legt mit ihrem neuen Roman den Grundstein für eine geplante Trilogie über die politische und gesellschaftliche Entwicklung Marokkos zwischen Tradition und Moderne – anhand von sehr persönlichen Schicksalen. Von INGEBORG JAISER
Als Mathilde im April 1947 auf einem wackligen Eselskarren nach Meknès geschaukelt wird, gestaltet sich ihr neues Zuhause in Marokko weitaus weniger exotisch und farbenfroh, als es sich die 20-Jährige in ihren kühnen Träumen ausgemalt hat. Anstatt abenteuerlicher Begegnungen und geheimnisvoller Orte – wie in Romanen von Karen Blixen, Alexandra David-Néel oder Pearl S. Buck beschrieben – erlebt die junge Französin erst einmal Kälte, Schmutz, Abscheu.Dabei ist sie mit Stolz und Aufbruchsgeist ihrer scheinbar kleinbürgerlichen Heimatstadt im Elsass entflohen, als frisch angetraute Gattin des dunkelhäutigen Marokkaners Amine Belhaj, der während des Zweiten Weltkriegs in Mühlhausen stationiert war.
In einem fremden Land
Doch der ehemals fesche Offizier im Dienst der französischen Armee gebärdet sich auf seinem eigenen Territorium als Patriarch, der die althergebrachten Gebräuche achtet und die Lebenslust seiner jungen Ehefrau mit Argwohn beäugt. Hier ist es an Amine, die Regeln zu erklären, »die Grenzen des Anstands, der Scham und der guten Sitten«. Rasch fühlt sich Mathilde von Grund auf fehl am Platze: zu blond, zu hellhäutig, zu europäisch, dazu mehr als einen Kopf größer als ihr Mann. Schließlich entpuppt sich die Übernahme der geerbten Farm am Fuße des Atlas-Gebirges als folgenschwere Fehlentscheidung, mit unfruchtbaren Ländereien, kargen Böden und Arbeitern, die sich ungern antreiben lassen.
Mathildes mutiger Sprung in die vermeintliche Freiheit und das große Abenteuer endet in Ernüchterung über die Fesseln der traditionellen Familienbande und der ökonomischen Abhängigkeit. Zerrieben zwischen zwei Kulturen, Religionen und Wertesystemen fragt sich Mathilde, ob für sie in dieser »Mischehe« in einem fremden Land überhaupt eine Zukunft besteht. Und was soll aus ihren Kindern werden, der empfindsamen, in einem christlichen Pensionat erzogenen Aicha, dem anhänglichen Selim? Werden die brüchigen Verbindungen in die alte Heimat der Zerrissenheit standhalten?
Zwischen Kulturen und Konventionen
Herkunft, Identität und Migration sind derzeit ein brennendes Thema – nicht nur als Romansujet. Doch die marokkanisch-französische Schriftstellerin Leïla Slimani, 1981 in Rabat geboren, erzählt eine Einwanderungsgeschichte entgegen der gewohnten Richtung und auch ein bisschen gegen den Strich. ›Das Land der Anderen‹ lässt Slimanis eigene fiktionalisierte Familienvergangenheit aufleben und berichtet vom gespaltenen Leben ihrer Großeltern. Der fulminante Auftakt zu einer geplanten Trilogie über drei Generationen schürt schon jetzt die Spannung auf die noch folgenden Bände. Wurde die Autorin doch 2016 bereits für ihren zweiten Roman ›Chanson Douce‹ (in deutscher Übersetzung: ›Dann schlaf auch Du)‹ mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet und beinahe schon als neue französische Kulturministerin gehandelt.
Während die politischen Ereignisse anfänglich noch als Hintergrundrauschen das Geschehen grundieren, wird das ›Das Land der Anderen‹ zunehmend von den Unabhängigkeitsbestrebungen Marokkos erschüttert. Im ehemaligen französischen Protektorat regen sich in den 1950er Jahren vehement die nationalistischen Partisanen. Auch die junge Familie von Amine und Mathilde gerät massiv unter Druck und niemand wird sich ohne Blessuren aus der angespannten Lage herauswinden können. Obwohl Leïla Slimani von einem übergeordneten Standpunkt aus erzählt, wechseln doch behutsam die Sichtweisen, wie in einem kreiselnden System, bewusst ohne Wertung und Abschätzung.
Fast trügerisch erscheinen dem Leser die bilderreichen, eindrucksstarken Schilderungen von Landschaften, Menschen, Stimmungen, die jedoch untrennbar mit einzelnen Schicksalen verbunden sind. Sehr elegant und fließend wurde dieser Roman (wie alle anderen von Leïla Slimani) von der erfahrenen Amelie Thoma ins Deutsche übertragen, die auch bereits Werke von Francoise Sagan und Simone de Beauvoir übersetzt hat Und man kann nicht umhin, sich an Sartre erinnert zu fühlen: »L’enfer, c’est les autres«.
Titelangaben
Leïla Slimani: Das Land der Anderen
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
München: Luchterhand 2021
379 Seiten. 22.- Euro
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