/

Entführt für einen großen Plan

Roman | Robert Wilson: Die Stunde der Entführer

Zum dritten Mal lässt Robert Wilson seinen »Kidnapping Consultant« Charles Boxer aktiv werden. Diesmal werden innerhalb von 24 Stunden gleich 6 Milliardärskinder in London entführt. Über ihre Forderungen schweigen sich die Täter erst einmal aus. Lediglich eine Aufwandsentschädigung von insgesamt 150 Millionen Pfund – je 25 Millionen von jedem der Superreichen aus aller Welt – soll zu einem bestimmten Termin bereitstehen. Damit die Opfer freilich zu ihren Familien zurückkehren können, verlangt man kein Geld, sondern Signale für ein globales Umdenken. DIETMAR JACOBSEN hat Wilsons Die Stunde der Entführer gelesen.

Die Stunde der Entfuehrer von Robert Wilson
Die Stunde der Entfuehrer von Robert Wilson
Sechs Kinder von Superreichen werden in London entführt: generalstabsmäßig geplant, innerhalb von einem knappen Tag, eines nach dem anderen. Zur selben Zeit beschäftigt Robert Wilsons »Kidnapping Consultant« Charles Boxer – den der Leser schon aus den beiden Romanen Stirb für mich (2013) und Ihr findet mich nie (2014) als harten und kompromisslosen Mann kennt – ein anderer Fall.

Die Tochter des Multimillionärs Conrad Jensen hat ihn nämlich gebeten, sie bei der Suche nach ihrem verschwundenen Vater zu unterstützen. Da Jensen in hochgeheime CIA-Operationen verstrickt war und über Kenntnisse verfügt, die die Agentur unbedingt unter der Decke halten will, gerät Boxer nur allzubald in die Schusslinie von Vertretern unterschiedlicher Geheimdienste, kaltblütigen Killern, hinterlistigen Politikern und Vertretern profitgieriger Konzerne. Und eines wird immer klarer: Zwischen Jensens Verschwinden und den sechs spektakulären Entführungsfällen existiert ein Zusammenhang.

Sechs auf einen Streich

Einmal in Schwung gekommen – und dazu braucht Die Stunde der Entführer keine zwanzig Seiten –, nimmt Robert Wilsons aktueller Thriller ein atemberaubendes Tempo auf. Zwischen London und der marokkanischen Wüste, wo es am Ende des Romans zu einem krachenden Showdown und einer letzten überraschenden Wendung kommt, wird der Leser von Schauplatz zu Schauplatz gehetzt, mit Informationen, Personen – die, gerade hat man sie kennengelernt, schon wieder in einem Kugelhagel niedergestreckt werden – und Sachverhalten so eingedeckt, dass ihm nur allzubald der Kopf zu schwirren beginnt.

Dazu kommen Boxers private Probleme. Da die Entführer ihn, dem ein gefährlicher Ruf vorauseilt, auf ihren Spuren wissen, kidnappen sie erst den Freund seiner Ex, einer Polizistin, dann seine eigene Tochter. Und als wäre das noch nicht genug der Verwicklungen, muss Isabel, Boxers aktuelle Beziehung, kurz nachdem sie ihm gestanden hat, schwanger von ihm zu sein, auch noch auf tragische Weise ums Leben kommen.

La lotería del vento – die Lotterie des Windes

»Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus«, hat Goethe einst in seinem Faust verlauten lassen. Allein Die Stunde der Entführer scheint mir, wenn das Wort erlaubt ist, doch etwas überactioniert und büßt dadurch auch an Glaubwürdigkeit ein. Nun ist ein Thriller natürlich ein Thriller und nicht die Realität. Hinter Robert Wilsons Roman aber steckt eine deutliche Kritik an Letzterer. Und die wäre noch besser zu hören und zu verstehen, wenn das hochaufmunitionierte Getöse um sie herum etwas verhaltener ausgefallen wäre.

Im Kern nämlich geht es um die Welt von heute. Wenn die Entführer mit den eingesammelten Millionen eine »lotería del vento«, eine Lotterie des Windes – an dieser Stelle sei der Spannung wegen nicht verraten, wobei es sich dabei genau handelt – in einem Londoner Park veranstalten, machen sie damit überdeutlich, dass Geld nicht ihren Antrieb darstellt. Die 25 Millionen Pfund, die jeder der sechs Erpressten zu zahlen hat, werden deshalb auch nur als eine Art Aufwandsentschädigung für die angefallenen logistischen Mühen betrachtet.

Um ihre im Überfluss aufgewachsenen Sprösslinge wiederzusehen zu können, verlangt man von deren in Weltwirtschaft und Weltpolitik verstrickten Erzeugern aber nicht nur Bares. Vor allem nämlich sollen sie, jeder auf seine Weise, ihren Einfluss geltend machen, damit Globalisierungsprozesse nicht länger zulasten der Ärmsten gehen, die Ökonomie ihren Einfluss auf die Politik und damit auf die Frage von Krieg und Frieden verliert und die weltweite Überwachung endet. Es ist ein Programm zur Verbesserung der Verhältnisse auf unserem Planeten, das man sich auf die Fahnen geschrieben hat. Und allein wegen dieser hochbrisanten Sicht auf unsere Zeit ist Robert Wilsons Die Stunde der Entführer einer der lesenswertesten Politthriller des Jahres.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Robert Wilson: Die Stunde der Entführer
Deutsch von Kristian Lutze
München: Wilhelm Goldmann 2016
479 Seiten. 16,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ich bin nicht, wer ich bin

Nächster Artikel

Tokyo sucht den Superstar

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Ein seltsames Paar

Roman | Friedrich Ani: Bullauge

Der 54-jährige Münchener Polizeihauptmeister Kay Oleander, vom Dienst freigestellt, weil er bei einem Einsatz gegen Demonstranten durch einen Flaschenwurf sein linkes Auge eingebüßt hat, glaubt, die Täterin auf einem Überwachungsvideo erkannt zu haben. Doch Silvia Glaser, 61 Jahre alt und seit einem Fahrradunfall, für die sie eine Polizeistreife verantwortlich macht, ebenfalls gehandicapt, bestreitet die Schuld. Stattdessen weiht die allein lebende Frau den Polizisten in ein von militanten Kreisen einer rechten Partei geplantes Attentat ein und bittet ihn, ihr zu helfen, den Anschlag zu verhindern. Zwei versehrte, einsame Menschen, die mit ihrem Schicksal hadern, sind die Helden in Friedrich Anis neuem Roman. Von DIETMAR JACOBSEN

Reiko Himekawas zweiter Fall

Roman | Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht Mit Blutroter Tod hat der S. Fischer Verlag vor Jahresfrist damit begonnen, die in Japan äußerst erfolgreiche Thrillerreihe um Tokios jüngste Polizistin Reiko Himekawa auch deutschen Lesern zugänglich zu machen. Die ersten Reaktionen der Kritik lasen sich verheißungsvoll. Nun liegt mit Stahlblaue Nacht – Der deutsche Titel des nicht aus dem Japanischen, sondern aus dem Englischen übersetzten Romans ist schlichtweg scheußlich! – Band 2 der Serie vor. Er steht seinem Vorgänger weder an Spannung noch an der raffinierten Konstruktion des Erzählten nach. Von DIETMAR JACOBSEN

Brunettissimo – come sempre

Roman | Donna Leon: Geheime Quellen
Der neunundzwanzigste Fall ist es bereits und irgendwie lässt sich die Jahreszeit am Erscheinen jedes neuen Brunetti-Krimis verlässlich ablesen. Schon wieder ist es Sommer, Zeit für eine Geschichte aus der Lagunenstadt: ein bisschen Verbrechen, ein bisschen Familiengeschichte, Büroklatsch, gewürzt mit unüberhörbarer Kritik an Strukturen der Stadt, dem Massentourismus, der Mafia und dem überall nützlichen Mittel der Beziehungen. Die Welt von Commissario Brunetti, seiner Familie, Vize-Questore Patta und Signorina Elletra. Eine Welt, in der man sich als Leser so richtig zu Hause fühlt, meint BARBARA WEGMANN

Spannende Handlung, dicht sortiert

Film | Im TV: TATORT ›Château Mort‹ (SWR), 8. Februar In den letzten Monaten folgten wir schon einmal dem Versuch, Bildungsgut für den Sonntagabend fein aufzubereiten. Das ist leider schwieriger als gedacht. Neulich musste Shakespeare dran glauben, der mit Anklängen an einen Western in Szene gesetzt wurde. Man war verwirrt und dachte heftig darüber nach, ob das den Western beschädigte oder Shakespeare oder womöglich den ›TATORT‹. Von WOLF SENFF

Ein Jahr nach dem großen Morden

Roman | Chris Hammer: Outback Rivers End, eine Kleinstadt im australischen Nordosten. Noch ein Jahr nach dem grausamen Verbrechen weiß niemand genau, warum der junge Pfarrer Byron Swift vor dem sonntäglichen 11-Uhr-Gottesdienst mit einem Gewehr aus seiner Kirche trat und fünf Männer erschoss, um dann selbst unter den Kugeln aus der Waffe eines Polizisten zusammenzubrechen. Von DIETMAR JACOBSEN