/

Aufgewühlte Wasser

Roman | Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen

Elma ist nach Akranes zurückgekehrt. Nach dem Ende einer langjährigen Beziehung sucht die junge Kriminalpolizistin einen Neuanfang in ihrem Leben. Dafür scheint Akranes, wo es ruhiger zugeht als in Reykjavík, genau die richtige Umgebung zu sein. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft erschüttert ein Tötungsverbrechen den Ort. Im Wasser vor dem alten Leuchtturm treibt eine tote Frau. Fieberhaft beginnen Elma und ihre neuen Kollegen Hörður und Sævar zu ermitteln. Und finden sich bald inmitten eines Falls, der weit in die Vergangenheit zurückreicht und in dem die Tote vom Leuchtturm nur die Spitze eines Eisbergs markiert. Von DIETMAR JACOBSEN

In dem verschlafenen 7.000-Seelen-Ort Akranes, nördlich von Reykjavík an der Westküste Islands gelegen, passiert normalerweise nicht viel, womit sich die Polizei beschäftigen muss. Ein paar Verkehrsdelikte, streunende Katzen, die durch offene Fenster in Häuser eindringen und dort für Unordnung sorgen – das ist schon alles. Also genau der richtige Ort für die Reykjavíker Polizistin Elma, um nach dem Ende einer langjährigen Beziehung wieder in die richtige Spur zu finden. Die neuen Kollegen von der Kripo Vesturland scheinen nett und hilfsbereit. Weil Elma in Akranes aufgewachsen ist, kann sie auch wieder auf die Unterstützung ihrer noch dort lebenden Eltern zählen. Und vielleicht findet sich sogar jemand, der den ihr in vielen Situationen immer noch fehlenden Lebensgefährten Davíð zu ersetzen vermag.

Ein Neuanfang

Doch Akranes scheint nur auf sie gewartet zu haben, um sie mit einem brutalen Verbrechen vor eine große Herausforderung zu stellen. In den aufgewühlten Wassern am Fuße des alten Leuchtturms, dem Wahrzeichen des Ortes, treibt eines Nachts die Leiche einer Frau. Schnell ist klar: Es handelt sich bei der Toten um die Pilotin Elísabet Hölludottir. Die sollte sich eigentlich auf einem Flug nach Kanada befinden, hat sich aber, ohne dass ihre Familie darüber Bescheid wusste, bei ihrem Arbeitgeber krank gemeldet und ist seitdem zuhause nicht mehr aufgetaucht. Was sie in Akranes, wohin sie nach Aussage ihres Mannes nie wieder einen Fuß setzen wollte, gesucht hat, scheint rätselhaft. Aber immer mehr Hinweise deuten darauf hin, dass in ihrer Kindheit in der kleinen Küstenstadt Dinge geschehen sind, die in der Gegenwart zu katastrophalen Folgen geführt haben.

Die 1988 in Akranes, dem Schauplatz ihrer Romane, geborene Eva Björg Ægisdóttir gewann bereits als 15-Jährige einen Kurzgeschichten-Wettbewerb. Nach einem Studium der Soziologie im norwegischen Trondheim und dem Masterabschluss in Globalisierung kehrte sie nach Island zurück und hatte bereits mit ihrem ersten Kriminalroman, der die isländische Bestsellerliste erklomm, den renommierten Blackbird Award gewann und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, einen durchschlagenden Erfolg. Bis dato folgten vier weitere Island-Krimis der heute mit ihrer Familie in Reykjavík lebenden Autorin.

Eine Familienkatastrophe

Während das Kriminalistentrio aufgrund der Tatsache, dass es in Elísabets Ehe offensichtlich kriselte und sie sich, wie sich herausstellt, mit konkreten Scheidungsplänen trug, den Ehemann der Toten genauer unter die Lupe nimmt, führt eine zweite in den Text eingebettete Erzählebene gut drei Jahrzehnte, in die Jahre 1989 bis 1992 nämlich, zurück. Am Beginn dieser Zeit ist Elísabet 6 Jahre alt. Das introvertierte Mädchen wächst in einer Familie auf, in der die Mutter nach dem Unfalltod des Vaters – die für Elísabet wichtigste Bezugsperson stirbt, als das Boot des Fischers in einem Sturm kentert – und dem plötzlichen Kindstod ihres gerade einmal zwei Wochen alten zweiten Kindes die Kontrolle über ihr Leben verliert. Fortan wird der Alkohol ihr ständiger Begleiter, wechselnde Männerbekanntschaften kommen offensichtlich für ihre Miete und die notwendigen Dinge des Alltags auf, während all die Fremden im Haus Elísabet mehr und mehr in Angst versetzen.

Geschickt versteht es Eva Björg Ægisdóttir, die Nöte des Mädchens, das in seiner wichtigsten Entwicklungsphase plötzlich ganz allein in der Welt steht, zu verdeutlichen. Dazu reichen ihr oft nur Andeutungen, kurze Einblicke in das Innenleben einer Gequälten. Die vor allem nach dem spurlosen Verschwinden ihrer besten Freundin Sara immer eigenwilliger auf ihre Umwelt reagiert. Weiß sie mehr, als sie zugibt? Und welche Rolle spielen all jene Erwachsenen, die sich 30 Jahre später an nichts mehr erinnern wollen, eisern darüber schweigen, was wirklich passiert ist damals und welche Rolle jeder Einzelne von ihnen dabei gespielt hat. Findet sich unter ihnen am Ende gar der Mörder von Elísabet Hölludottir?

Erinnerungen an dunkle Zeiten

Verschwiegen ist ein ebenso stilles wie kluges Buch. Eva Björg Ægisdóttir hat es nicht nötig, mit Knalleffekten für Spannung zu sorgen. Dadurch ähnelt ihr Roman ein bisschen jenen Büchern ihres großen Landsmannes Arnaldur Indriðason (Jahrgang 1961), in denen der seinen Reykjavíker Kommissar Erlendur Sveinsson neben dem Lösen aktueller Fälle mit seinem Team gegen die Schatten der eigenen Vergangenheit kämpfen ließ, bis diese ihn am Ende der mehr als 10-bändigen Romanreihe dann doch noch einholten. Auch in der Welt der Kriminalromane des wohl bekanntesten isländischen Spannungsautors unserer Tage fallen kaum Schüsse, sorgt nichts Spektakuläres, Aus-dem-Rahmen-Fallendes für Aufregung, dominieren Realismus und ein tiefer Blick in die Psyche der Figuren. Ægisdóttir bewegt sich mit ihrem Personal und dessen Konflikten also auf vertrautem Terrain und der Erfolg, den sie mit ihren Romanen in ihrer Heimat hat, basiert wohl zu einem nicht geringen Teil auf dieser realistischen Anlage ihrer Romane.

Man darf gespannt sein, wie es weitergehen wird mit der Polizistin Elma und ihren beiden Kollegen von der Kriminalpolizei Vesturland. Für jene zurückliegende Geschichte, die Ægisdóttirs Heldin bewog, ihr Leben in Reykjavík gegen das in der kleinen Stadt ihrer Kindheit einzutauschen, findet die Autorin am Ende ihres ersten Romans – zwei Fortsetzungsbände unter den Titeln Verlogen und Verborgen hat der deutsche Verlag der Autorin bereits für diesen Herbst und das kommende Frühjahr angekündigt – jedenfalls eine überraschende Erklärung, die der Lösung ihres ersten Falles weder an Schlüssigkeit noch Tragik nachsteht.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen. Ein Island-Krimi
Aus dem Isländischen von Freyja Melsted
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023
364 Seiten. 17 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

|Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Freunde und Feinde

Nächster Artikel

Anschreiben gegen die Zeit

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Bigfoot und die Opioide

Roman | Lee Child: Der Bluthund

Wenn auf einen Verlass ist, dann auf Jack Reacher. Auch als der im Schaufenster eines Pfandleihers in einer kleinen Stadt in Wisconsin – wie fast immer hat es Lee Childs Held zufällig in diese Gegend verschlagen – auf einen Abschlussring der Militärakademie West Point stößt, interessiert er sich sofort für das Schicksal der Frau, der das auffällig kleine Stück offensichtlich einst gehörte. Auf mehr als die eingravierten Initialen S.R.S. und das Jahr 2005 stößt er allerdings zunächst nicht. Aber weder der Pfandleiher noch die Person, von welcher der den Ring bekommen haben will, kommen Reacher sonderlich koscher vor. Und so nimmt das 22. Abenteuer des Mannes ohne festen Wohnsitz in einer Pfandleihe seinen Anfang. Von DIETMAR JACOBSEN

Der arabische Frühling kommt nach Deutschland

Krimi | Oliver Bottini: Ein paar Tage Licht Nachdem er sich (vorerst?) von seiner Freiburger Kommissarin Louise Boní getrennt hat, die im Mittelpunkt der ersten fünf Romane Oliver Bottinis stand, sind die letzten beiden Bücher des 1965 geborenen Autors Kriminal- und Zeitromane in einem. Ging es in Der kalte Traum (2012) um den Jugoslawienkonflikt und seine Nachwirkungen, führt uns Ein paar Tage Licht (2014) nun dicht an einen anderen Krisenherd unserer Tage heran – nach Algerien nämlich, vom »Arabischen Frühling« zunächst verschont geblieben, aber auch – wie seine Nachbarstaaten – in Verhältnissen erstarrt, die nach demokratischen Veränderungen verlangen. Von DIETMAR

Detektive sind wieder in

Roman | Lisa Sandlin: Ein Job für Delpha 14 Jahre hat Delpha Wade im Gefängnis von Gatesville/Texas gesessen. Und während dieser Zeit die Beatles, die Beach-Boys, die Supremes und Gott weiß noch welche Superband der goldenen sechziger Musikjahre verpasst. Nun ist sie wieder draußen und sucht einen Job. Man schreibt das Jahr 1973 und mithilfe ihres eifrigen Bewährungshelfers kommt Delpha in einem eben gegründeten Detektivbüro unter. Klar, dass da die Probleme nicht lange auf sich warten lassen. Von DIETMAR JACOBSEN

Der etwas andere Schnüffler

Comic | Andreas: Privatdetektiv Raffington Event Andreas‘ ›Privatdetektiv Raffington Event‹ ist nicht unbedingt der Mann fürs Grobe. Sein Spezialgebiet ist das Obskure: Fälle, bei denen man kaum einen Täter mit Namen nennen kann, falls es überhaupt einen geben sollte. Insofern ist er ein typischer Vertreter aus dem merkwürdigen Comic-Kosmos seines deutschen Urhebers, der zumindest in seiner französischen Wahlheimat schon lange zu den Großen gehört. Von CHRISTIAN NEUBERT

Auf der Suche nach …

Jugendbuch | Angeline Boulley: Firekeeper’s Daughter

Die 18jährige Daunis Fontaine hat eine weiße Mutter aus reichem Haus, ihr Vater war ein Native American, talentierter Eishockeyspieler, der seine Träume begraben musste. Daunis will eigentlich Medizin studieren, aber die aktuelle Situation ist kompliziert – und wird es immer mehr. Von ANDREA WANNER