Tobias Rüther hat die erste Biographie über den Schriftsteller Wolfgang Herrndorf vorgelegt. DIETER KALTWASSER hat sie gelesen
Vor zehn Jahren nahm sich der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, unheilbar an einem Hirntumor erkrankt, in Berlin das Leben. Jetzt hat der Journalist Tobias Rüther die erste Biografie des Autors vorgelegt. Ein Selbstporträt von Herrndorf ziert das Cover. Das Buch ist keine Hagiographie geworden. Aber das Buch ist keine Hagiografie geworden: vielmehr sind es Genauigkeit, Detailreichtum und Mut, die es überaus lesenswert machen. Tobias Rüther, geboren 1973, studierte Geschichte und Deutsche Literatur in Berlin und St. Louis. Seit 2010 gehört er dem Feuilleton der ›Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‹ an, seit 2020 ist er verantwortlich für das Literaturressort. 2008 erschien sein Buch »Helden« über David Bowie.
Rüther, der Herrndorf persönlich nie begegnet ist, hat viele bislang unveröffentlichte Dokumente gesichtet und Gespräche mit der Familie, den Freunden und Freundinnen wie Kathrin Passig, Holm Friebe und Carola Wimmer geführt. Er zeichnet das Leben Wolfgang Herrndorfs nach, von seiner Kindheit in Norderstedt in Schleswig-Holstein über seine Studienzeit in Nürnberg und sein Leben und Schreiben in Berlin bis hin zu seiner Tumorerkrankung und seinem Selbstmord. Herrndorf wird zu seinen Lebzeiten vier Bücher veröffentlichen, »und so unterschiedlich sie auch ausfallen, inhaltlich wie formal – Berlin-Roman, Erzählungsband, Jugendroman, Thriller -, fühlt es sich doch vertraut an, wenn man nach dem einen das nächste liest«, heißt es bei Rüther.
Wolfgang Georg Otto Herrndorf wurde am 12. Juni 1965 in Hamburg geboren und wuchs in den Norderstedter Stadtteilen Garstedt und Glashütte auf. Sein Vater war Lehrer für Sport und Geschichte und seine Mutter Karin Herrndorf, genannt Katrin, leitete die Tanzgruppe eines örtlichen Sportvereins und betreute die Kinder in einer kirchlichen Vorschulgruppe. Mit dem Wechsel aufs Gymnasium wurde der junge Herrndorf immer mehr zum Einzelgänger. In seinem Internet-Tagebuch ›Arbeit und Struktur‹ schrieb er später: »Von frühester Kindheit an hatte ich die Vorstellung, nicht von dieser Welt zu sein. Ich sah aus und redete wie die Erdlinge, kam aber in Wirklichkeit von der Sonne.« Und weiter: »Einzig mir nachvollziehbare religiöse Handlung immer gewesen: Der in allen frühen Kulturen praktizierte Kult um die frühmorgendliche Erwartung und Verehrung der Sonne.«
Von 1986 bis 1992 studierte Herrndorf Malerei an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Er wurde stark inspiriert von Malern der Renaissance und des Barock, zu seinen Vorbildern zählten Dürer und Vermeer. Herrndorf arbeitete als Illustrator und Autor u. a. für den Haffmans Verlag und die Satirezeitschrift ›Titanic‹. 1997 zieht er in eine Einzimmerwohnung im vierten Stock des Hinterhofs der Novalisstraße 5. »Er wird bis kurz vor seinem Tod in dieser Wohnung bleiben, fünfzehn Jahre lang, und Berlin nur verlassen, wenn es sein muss. Und das ist selten«, schreibt sein Biograph.
Von Herrndorf erscheint 2002 der Roman ›In Plüschgewittern‹, 2007 der Erzählband ›Diesseits des Van-Allen- Gürtels‹, 2010 und 2011 folgen ›Tschick‹ und ›Sand‹, erst 2013 dann posthum ›Arbeit und Struktur‹.
›Tschick‹ brachte ihm im Herbst 2010 den großen Durchbruch als Autor: Das Buch über zwei jugendliche Außenseiter, die sich in einem gestohlenen Lada Niva ohne Kompass, Karte und Navi durch die mitteldeutsche Provinz schlagen, wurde zu einem Bestseller und befreite den bis dahin stets am Existenzminimum lebenden Herrndorf mit einem Schlag von seinen finanziellen Engpässen. Doch schon ein halbes Jahr zuvor hatte Herrndorf in der Berliner Charité von seiner tödlichen Krankheit erfahren.
Die weitere schriftstellerische Arbeit gestaltete sich schwierig, Herrndorf litt u.a. unter Erschöpfung und Konzentrationsstörungen. 17,1 Monate blieben ihm noch, so hatte er es sich für seine Arbeit ausgerechnet. Wichtig schien ihm einzig, wieviel Zeit er noch habe, um noch ein weiteres Buch vollenden zu können. Am Ende werden es noch dreieinhalb Jahre sein. Und auch der Roman ›Isa‹ sollte nun veröffentlicht werden. Herrndorf akzeptierte zuletzt das für ihn Schwerste: einen Roman als Fragment zu hinterlassen. So ist ›Bilder deiner großen Liebe‹ (der Titel stammt noch vom Autor) ein unvollendeter Roman geblieben, ein Werk, das in der Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. Vordergründig ist ›Bilder deiner großen Liebe‹ die Geschichte einer jugendlichen Ausreißerin. Was im Hintergrund stets präsent bleibt und den Roman noch einmal ganz anders beglaubigt, ist die Tragödie eines Sterbenden, der nicht allein in den Tod gehen möchte und in »Isa« seinen Schutzgeist und seine Totengöttin zugleich gefunden hat – die Figur eines dunklen Engels.
In seinem Testament vom 23. Juli legte Herrndorf fest: »Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.« Trotz dieser Verfügung hat sich Tobias Rüther vorgenommen, diese Biographie zu schreiben und er hat dies mit großer Feinfühligkeit, Achtung und Respekt vor dem Schriftsteller getan. Auf die Frage, warum er sich trotz des Testaments getraut habe, diese Biografie zu schreiben, antwortete er: »Ich habe mich getraut es zu tun, weil mir Wolfgang Herrndorf wirklich so viel bedeutet. Als die Witwe Carola Wimmer und die Eltern Herrndorfs mich gefragt haben, weil sie sich eine Biographie gewünscht haben und mir dafür den Nachlass öffnen wollten, habe ich direkt ja gesagt.«
Zweifellos verehrt Rüther Herrndorf, möglicherweise überhöht er ihn auch, wenn er ihn letztlich zum »größten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation« erklärt. Aber er legt uns das Bild eines Künstlers vor, wie seine Freunde und Familie es in Erinnerung haben. Hierdurch ist das Porträt eines Schriftstellers entstanden, in dem sich strenge Arbeitsdisziplin und Exzessivität zu einem Werdegang ausgleichen, der vom legendären Internet-Forumsmitglied der »Höflichen Paparazzi« bis zum Bestseller-Autor führt.
Am 26. August 2013 erschoss sich Wolfgang Herrndorf am Ufer des Hohenzollernkanals. Die Urne mit seiner Asche wurde am 20. September auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt, die Trauerfeier fand im nahegelegenen Brecht-Haus statt. Auf Wunsch von Carola Wimmer wurde die erste Strophe des Gedichts »An der Weser, Unterweser, wirst Du wieder sein wie einst« vorgetragen, die Wolfgang Herrndorf einst seiner Mutter aufgesagt hatte. Ein Gedicht des längst vergessenen Georg von der Vring, dem »letzten Meister des Liedes«.
Titelangaben
Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023
352 Seiten, 25,00 EUR.
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