/

Aus dem Steinbruch der Literatur

Menschen | Interview zum 100. Todestag von Iwan Franko

Vor 100 Jahren starb Iwan Franko, Begründer der modernen ukrainischen Literatur und Verfechter der ukrainischen souveränen Nation. Der Autor, Journalist, Übersetzer und Politiker wurde sowohl vom Sowjetregime als auch von ukrainischen Nationalisten einseitig dargestellt. Er galt als heldenhafter »Kamenjar«, als jemand, der in einem Steinbruch hart daran arbeitete, Felsen abzubauen und aus dem gewonnenen Stein etwas Neues zu schaffen. Franko selbst hatte seinem Volk in seinem Gedicht ›Kamenjary‹ diese im übertragenen Sinne revolutionäre Tätigkeit zugeschrieben. Von JUTTA LINDEKUGEL

Iwan Franko 1886
Iwan Franko 1886

Eine Neu-Interpretation von Franko beginnt in der Ukraine nur zögerlich, bemerkenswert sind vor allem die ideologiefreien Ansätze der Kiewer Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova und des Lemberger Historikers Jaroslaw Hrytsak.

Die Kiewer Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova, die ein Buch über Iwan Franko veröffentlicht hat, spricht über die Bedeutung von Iwan Franko in der Ukraine heute

TITEL: Wer war Iwan Franko?
Hundorova: Ganz allgemein gesagt, war er ein ukrainischer Schriftsteller, Kulturschaffender, Wissenschaftler und Politiker. Pathetisch ausgedrückt, ist Franko der Intellekt der ukrainischen Nation. Mit seinem Namen ist traditionell die Schaffung der vollwertigen, modernen ukrainischen Literatur mit ihren verschiedenen Gattungen verbunden, aber auch die Bildung der modernen ukrainischen Nation am Ende des 19. Jahrhunderts.
Franko, der sein ganzes Leben in Galizien verbracht hat, war ein aktiver Teilnehmer und oft auch Quelle der Inspiration für zahlreiche Diskussionen, die sich damals zur Rolle der ukrainischen Intelligenz und zu den internationalen und interethnischen Beziehungen im österreichisch-ungarischen Imperium, zu den sozialen, kulturellen und aufklärerischen Bewegungen des Fin de Siècle entspannen. Der Sozialismus in der Ideologie, der Nationalismus in der Politik, der Feminismus in den sozialen Bewegungen, Naturalismus und Dekadenz in der Literatur, das sind nur Teile des Interessensgebiets und der Tätigkeit von Franko.
Hinsichtlich der symbolischen Bedeutung oder des kulturellen Mythos‘ Franko, um den er sich selbst nicht wenig bemüht hat, existiert in den Köpfen der Ukrainer bereits seit über einem Jahrhundert das Bild von Franko als Nationalheld, als einem Führer wie Moses, als unermüdlicher »Kamenjar«.

Was bedeutet Iwan Franko den Ukrainern heute?
Im Bewusstsein der meisten Ukrainer bleibt Franko der »Kamenjar«, insbesondere als aktiver Streiter für die nationale Selbständigkeit der Ukraine. Dieses Bild wurde durch die nationalistische Ideologie verstärkt und ist im Kontext der postsowjetischen Zeit am besten verständlich. Es in ein menschlicheres, komplexeres und weniger heiliges Bild zu wandeln, wie es im letzten Jahrzehnt durchaus versucht wurde, ist leider nicht gelungen.

Wird oder wurde Iwan Frankos Antisemitismus in der Ukraine diskutiert?
Ich kann mich nicht an eine breite Diskussion darüber in der Ukraine erinnern. Ich glaube, man sollte die Frage zum Antisemitismus in ihrer Komplexität historisch und vergleichend betrachten.

Welche Werke von Franko finden Sie am wichtigsten oder schönsten? Warum gerade diese?
Ich schätze besonders das künstlerische und kritische Vermächtnis Frankos. Für mich hat Franko mit seinen Werken, Übersetzungen und kritischen Artikeln große Lücken in der ukrainischen Literatur gefüllt. Er hat die Form der psychologischen Schrift und das Muster für den intimen poetischen Diskurs geschaffen, hat sich bemüht, ein neues gesellschaftliches Epos zu kreieren, hat die problematischen Bereiche der Nationalkultur benannt und die Topoi und Kulturmodelle anderer Kulturen in die Ukraine gebracht.
In gewissem Sinn war er Pragmatiker und gestattete sich nicht die Beschäftigung mit Ästhetik. Er hatte sozusagen eine Mission, die er für sich selbst so formuliert hat, die Literatur zur Schule der Zivilisierung zu machen. Ich liebe besonders sein lyrisches Sezessionsdrama ›Welke Blätter‹, die Parabel ›Wie Jura Schykmanjuk den Tscheremosch durchwatete‹, die Erzählung ›Grundlagen der Gesellschaft‹ oder die Studie über den frühchristlichen Protoroman ›Barlaam und Josaphat‹.

Wie genau wird das hundertjährige Jubiläum des Todes von Franko in der Ukraine begangen werden?
Natürlich wird ein Veranstaltungskomitee gebildet, es werden Versammlungen, Abendveranstaltungen und Konferenzen, die Franko gewidmet sind, stattfinden. Doch wie die Erfahrung zeigt, entsprechen solche Veranstaltungen nicht immer dem Jubilar, sofern eine offizielle Sicht von ihm dominiert.

In der Ukraine haben allerdings bereits auch alternative Formen der Rezeption eingesetzt, zum Beispiel das Festival ›Franko-Fest‹, auf dem zeitgenössische, spannende Visionen zum Dichter anklingen und die Vorstellung von Franko als Bronzedenkmal ersetzen. Dazu gehört auch, dass es nun eine neue Lesart von Franko gibt. Ich möchte hier auch mein Buch ›Franko war kein Kamenjar‹ erwähnen.

| JUTTA LINDEKUGEL
| Titelbild: Bildnis Frankos an der Büchei in Donezk (Ukraine) / Steschke

Titelangaben
Tamara Hundorova: Franko ne Kameni︠ar
(Franko – Constructs of the Writer)
Kiew: Krytyka 2006
350 Seiten

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Digitale Seifenblase

Nächster Artikel

Balearic House And Disco Kicks: An Interview With Nadiem Shah

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Romane waren der fehlende Rest

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Jürgen Becker Als »eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« wurde Jürgen Becker vor drei Jahren völlig zu Recht bezeichnet, als ihm der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands, verliehen wurde. Von PETER MOHR

Tagtäglich neu überraschen lassen

Menschen | Zum Tod von Friederike Mayröcker

Ihre Kreativität war imponierend. Bis zuletzt hat die Grande Dame der österreichischen Literatur, Friederike Mayröcker, geschrieben und fast Jahr für Jahr »ihr letztes Buch« veröffentlicht. Im letzten Herbst war noch der Band ›da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete‹ erschienen, in dem sie sich selbst als »Debütantin des Todes« bezeichnete. Von PETER MOHR

Aufbruch und sinnliche Ekstase

Menschen | Zum 75. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Jean-Marie Gustave Le Clézio   Als Jean-Marie-Gustave Le Clézio im Oktober 2008 völlig überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, rühmte ihn die Stockholmer Akademie als »Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase – ein Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation.« Die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit reagierte damals mit Unverständnis. Marcel Reich-Ranicki erklärte, dass er den Autor nicht kenne, Sigrid Löffler bezeichnete die Jury-Entscheidung als »bizarr«. Von PETER MOHR

Malen kann das Frauenzimmer!

Menschen | Adrienne Braun: Künstlerin, Rebellin, Pionierin Luise Duttenhofer, Emmy Schoch oder Gerta Taro: Künstlerin, Rebellin, Pionierin waren sie alle, eine jede in ihrem Ressort und zu ihrer Zeit. Grund genug, diese und über ein Dutzend weitere herausragende Frauen-Biographien aus Baden-Württemberg (wieder) zu entdecken. Die Stuttgarter Kulturjournalistin Adrienne Braun hat dazu eine Auswahl von überaus geistreichen und anregenden Porträts verfasst. Von INGEBORG JAISER