Kassandra verstummt nicht

Roman | Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, denkt an mich

»Jedes Buch entsteht aus neuen Fragen, aus neuen Erfahrungen heraus«, hatte Friedrich Christian Delius 2013 in einem Interview über seine eigene Arbeit erklärt. Ein spürbarer politischer Klimawechsel, gewaltige Veränderungen in der Medienlandschaft und handfeste Probleme mit dem Älterwerden sind die zentralen Motive im neuen, etwas sperrigen Erzählwerk des Georg-Büchner-Preisträgers von 2011. Von PETER MOHR

Der inzwischen 77-jährige Delius hat sich zeitlebens in der Rolle des unangepassten Querdenkers gefallen. Auch sein neues Buch (es ist alles andere als ein Roman, wie es der Verlag auf dem Cover offeriert) bewegt sich weit abseits des Mainstreams – sowohl inhaltlich als auch formal.

Wir haben es mit Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit zwischen September 2017 und Juli 2018 zu tun. Delius verbirgt sich dabei (allerdings nur mäßig getarnt) hinter der Person eines Wirtschaftsredakteurs, der von seinen Kollegen »Kassandra« genannt und auf unschöne Weise (zwei Jahre vor Eintritt ins Rentnerdasein) in den Vorruhestand verabschiedet wurde.

Ein Journalist alter Schule, der insistierend nachfragte, dem akribische Recherche wichtiger war als Schicki-Micki-Empfänge. »Weiterschreiben. Aber ganz anders, frei, endlich frei. Freigestellt, zum ersten Mal gefiel mir der alte Zynismus der Arbeitgeber«, heißt es.

Er sieht sich nur noch als Kostenfaktor in der sich verändernden Medienlandschaft, in der der Platz für Zeitungen immer kleiner wird und die Gegenwelt der Social Media mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Klicks bringen Werbeeinnahmen, schnell und pointiert lautet das neue beklagenswerte Motto: »Wer differenziert, ist sowieso ein Langweiler.«

Irgendwann schreibt er dann nur noch für sein Tagebuch – in Gedanken an seine 18-jährige Nichte Lena, der er offensichtlich etwas Persönliches hinterlassen will. Beharrlich und verbissen widmet er sich mit aufklärerischem Furor der Finanzkrise Griechenlands und der Rolle der EU, er prangert anti-demokratische Tendenzen in Mitgliedsstaaten an, die Merkel-Ära wird scharfzüngig-polemisch kommentiert, und immer wieder taucht die expandierende Wirtschaftsmacht China wie ein drohendes Gespenst in den Tagebucheinträgen auf. Der Kauf des Hafens von Piräus sei nur der erste Schritt gewesen, mutmaßt der dauer-kommentierende Protagonist, der nicht müde wird, sich – zwischen den Zeilen – wiederholt selbst zu feiern: »Nur wenn du Minderheit bist, kannst du ein guter Journalist sein.«

Am Ende berichtet er von einem Wiedersehen an den berühmten Kreidefelsen mit seinem alten Schulfreund Roon, der viele Jahre als Kardiologe in Baltimore gelebt und sich dann als Landarzt auf Rügen niedergelassen hat.

Friedrich Christian Delius hat kein durchkomponiertes, hochästhetisches Werk vorgelegt, sondern einen tiefen, höchst subjektiven Einblick in seine Gedankenwelt gewährt: »Was denk‘ ich, was seh‘ ich, wo bin ich, was will ich!«

Da klingen tatsächlich Sätze mit der Intensität von Kassandra-Rufen nach. Es sind Hilfeschreie eines Menschen, der sich überflüssig fühlt, der abgehängt wurde, weil sein Alter und der schnelllebige Zeitgeist gegen ihn gearbeitet haben.

So geht es der Hauptfigur und wohl auch dem engagierten Autor Delius. Beide wehren sich mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit, suchen schreibend nach etwas Anerkennung und wollen (so lange die Energie reicht) mahnen und warnen und weiter kräftig gegen den Strom schwimmen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, denkt an mich
Reinbek: Rowohlt 2019
253 Seiten, 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ausraster

Nächster Artikel

Ordnung ist das halbe Leben…

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wenn der Tod im Osten Einzug hält

Roman | Jerome P. Schaefer: Der Dschungel von Budapest

Die Welt an der schönen blauen Donau scheint in Ordnung zu sein. Auf den ersten Blick zumindest. Bei genauem Hinsehen aber regt sich leiser Zweifel an der Idylle in Budapest: Das Wasser des Stroms »glitzert« schon etwas »unruhig«, der Himmel strahlt eisig »kalt blau« und die Margaretheninsel schimmert in der Ferne »fast wie eine Schimäre«. Und mitten in dieser Szenerie, am Rande des Budapest Marathons, finden wir Tamás Livermore. Nicht als teilnehmenden Sportler, nein, der Privatdetektiv hat sich als Sicherheitsmann anstellen lassen und beobachtet, ausgerüstet mit einem Walkie-Talkie, das Geschehen von der anderen Seite des Flusses. Die Störung lässt nicht lange auf sich warten. Eine Autobombe zerreißt das friedliche Bild, »die Kakophonie des Notfalls setzt ein«. In seinem Debüt Der Dschungel von Budapest – erschienen im Berliner Transit-Verlag – gerät Jerome P. Schaefers Privatermittler mitten in ein ziemlich brisantes politisches Räderwerk von dunklen Machenschaften im Ungarn der Nachwendezeit. Gelesen von HUBERT HOLZMANN

Der Robin Hood von L.A.

Roman | Ryan Gattis: Safe Vor anderthalb Jahren erregte der in Los Angeles lebende Ryan Gattis (Jahrgang 1987) mit seinem Debütroman In den Straßen die Wut große Aufmerksamkeit. Nun hat er einen zweiten Roman vorgelegt. Wieder ist Gattis Heimatstadt die Kulisse für ein atemberaubendes Gangsterstück. Und ging es in dem Erstling um die 1992er Unruhen nach dem Freispruch für vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King ein Jahr vorher nach einer wilden Verfolgungsjagd unverhältnismäßig brutal zusammengeschlagen hatten, so spielen die so genannten »Los Angeles Riots« auch in dem im Krisenjahr 2008 angesiedelten Safe noch eine wichtige Rolle. Eine Rezension von

Die Erlöserin

Krimi | Bernhard Aichner: Totenfrau Wer möchte schon Brünhilde heißen? Hagen Blums Tochter jedenfalls nicht. Und so beschließt die 16-Jährige, dem Vater, einem bekannten Innsbrucker Bestattungsunternehmer, die Nibelungentreue aufzukündigen und fortan nurmehr unter ihrem Nachnamen aufzutreten. Doch nicht nur in diesem Punkt setzt Blum ihren Kopf durch. Auch der verhassten Adoptiveltern weiß sie sich ein paar Jahre später so raffiniert wie brutal zu entledigen. Und lernt bei der Gelegenheit auch noch den Mann ihres Lebens kennen. Doch wenn das Glück am ungetrübtesten scheint, fangen die Albträume gewöhnlich erst an. Bernhard Aichner neuer Krimi Totenfrau. Von DIETMAR JACOBSEN

Allein gegen die CIA

Roman | James Rayburn: Sie werden dich finden James Rayburn ist eines der beiden Pseudonyme, unter denen der bekannte Thrillerautor Roger Smith seit 2013 auch Spionage- und Horrorromane schreibt. In Sie werden dich finden lässt sich eine Ex-CIA-Agentin, die nach dem Tode ihres Mannes zur Whistleblowerin geworden ist, auf einen Kampf mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber ein. Mit ihrer kleinen Tochter flieht Kate Swift um die halbe Welt, gejagt von Feinden, mit denen sie einst Seite an Seite gekämpft hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Nicht alles hat einen Grund

Roman | Peter Stamm: Weit übers Land Heute noch ein intaktes Familienleben mit geerbtem Häuschen in der Schweiz und Sommerurlaub in Spanien – doch am nächsten Tag schon der Bruch. Der Ehemann und Vater Thomas verschwindet spurlos und ohne Grund. Peter Stamms neuer Roman Weit übers Land beginnt vermeintlich harmlos und wirft doch die ganz existentiellen Fragen auf, zeigt die Ungewissheiten des Lebens und der Liebe. Von INGEBORG JAISER