/

Auf der Suche nach der verlorenen Enkelin

Roman | Clementine Skorpil: Gefallene Blüten

Shanghai 1926. Die alte Ai Ping ist in die große Stadt gekommen, um ihre Enkelin zu finden. Mit Hilfe des vom baldigen Ausbruch der Weltrevolution überzeugten idealistischen Studenten Lou Mang dringt sie ein in ein Labyrinth aus politischen Intrigen, Bandenkämpfen und kulturellen Gegensätzen. Und nimmt am Ende zwar nicht die Gesuchte, aber doch ein Stück Hoffnung wieder mit nach Hause. Von DIETMAR JACOBSEN

Clementine Skorpil: Gefallene Blüten
Für die alte Ai Ping birgt die Großstadt Shanghai, in die sie ein lärmender »Eisenwurm« gebracht hat, jede Menge Unerklärliches. Da fahren mit den Rikschas um die Wette knatternde Kisten auf vier Rädern durch die Straßen. In Hotels betritt man kleine Räume, die sich mit einem nach dem Schließen der Tür in die Lüfte erheben. Und die Menschen kommunizieren miteinander in unverständlichen Sprachen, von denen eine sich anhört, als wären ihre Benutzer hartnäckig verschnupft.

Aber Ai Ping hat keine Wahl. Will sie ihre Enkelin, die schöne Pflaumenblüte, wiederfinden, muss sie sich auf ihren verstümmelten Füßen Tag für Tag in das Labyrinth der Straßen und Gassen eines prosperierenden Handelsplatzes begeben, wo Europäisches und Asiatisches sich vermischen, der Opiumhandel blüht und kommunistische Agitatoren sich in die Fabriken einschleichen, um den Arbeitern ein Bewusstsein ihrer selbst zu vermitteln.

Ai Ping, Lou Mang und Mao Zedong

Einer dieser von der bald losbrechenden Weltrevolution der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker überzeugten Idealisten ist Lou Mang. Er hat in Paris ein Medizinstudium begonnen und ist nach Shanghai zurückgekommen, um sich ganz der Sache der Ausgebeuteten zu widmen.

Aber der Mensch lebt nicht von Agitation und Propaganda allein. Da kommt es ihm nicht ungelegen, dass Ai Ping ihn in die Suche nach ihrer verschollenen Verwandten einbezieht. Und außerdem scheint das Verschwinden von Pflaumenblüte etwas mit dem Mord an einem in dunkle Machenschaften verstrickten Geschäftsmann zu tun zu haben, ist die Enkelin, die in Shanghai in einem Kurtisanenhaus gelandet ist, vielleicht sogar dessen von der Polizei gesuchte Mörderin.

Gefallene Blüten ist der zweite Krimi der Sinologin und Historikerin Clementine Skorpil. Geschickt mischt die 1964 in Graz geborene Autorin darin Erfundenes mit Verbürgtem. So begegnet der Leser Figuren der Zeitgeschichte – sogar der spätere Vorsitzende der KP Chinas, Mao Zedong, darf im Rahmen einer Parteiversammlung eines seiner wenig kunstvollen, dafür aber umso aufrüttelnderen Gedichte vortragen –, deren Wege sich mit jenen des von Skorpil erfundenen Personals beständig kreuzen.

Das ist manchmal etwas mühevoll im Nachvollzug, zumal die vielen Namen ein häufiges Zurückblättern in das Personenverzeichnis am Anfang des Buches notwendig machen, will man sich nicht genauso auf seinen Seiten verirren wie Ai Ping in der Großstadt Shanghai.

Verbürgtes und Erfundenes geschickt miteinander verwoben

Natürlich kommt – Gefallene Blüten ist schließlich ein Kriminalroman – am Ende alles anders als gedacht. Und wenn Clementine Skorpils sympathische Hauptfigur zurückkehrt in ihr Dorf, hinterlässt sie nicht etwa eine Welt, in der das Gute vom Bösen säuberlich geschieden und Letzteres seiner gerechten Strafe zugeführt wurde. Doch wenigstens einigen wenigen Menschen hat sie ihr überaus hartes Schicksal erleichtern können. Und das Surplus für uns Leser?

Kenntnisreich, humorvoll und mit leichter Hand – nur manchmal scheint es mir ein bisschen zu viel der intriganten Verwirrung – werden wir eingeführt in eine Zeit, ein Land und eine Gesellschaft, von denen wir arg wenig wissen, obwohl hier und von vielen der auftretenden historischen Persönlichkeiten ausgehend Fragen auf die historisch-politische Tagesordnung gesetzt wurden, an deren Beantwortung die blutigen Kämpfe des ganzen letzten Jahrhunderts sich entzündeten.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Clementine Skorpil: Gefallene Blüten
Hamburg: Argument Verlag 2013
347 Seiten. 12,00 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Knirps auf dem Vormarsch

Nächster Artikel

Was wollte ich noch mal hier?

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Eine Art neue Inquisition

Roman | Andrew Brown: Trost Andrew Brown gehört zu jenen Autoren, die es in den letzten Jahren geschafft haben, Südafrika auch als Krimistandort im Bewusstsein der deutschen Leser zu etablieren. Nach Schlaf ein, mein Kind (2009) lässt der während der Apartheid mehrere Male verhaftete 48-jährige Autor in Trost erneut seinen Inspector Eberard Februarie ermitteln. Doch was heißt »ermitteln«? Eher nimmt man teil an einem Sich-Durchkämpfen des Helden durch eine von Korruption und Verrat, Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägte Wirklichkeit. Dass Browns Protagonisten dabei tiefe Wunden geschlagen werden und er sich zunehmend auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, Gesetz und

Nur raus aus diesem Desaster

Film | Im TV: Polizeiruf 110, ›Abwärts‹ (MDR), 6. Juli Babys legen vor der Kamera stets eine fröhliche Miene auf. Dieses Baby verweigert sich? Das gibt zu denken. Der Sonntagabend-Krimi liefert triste Realität? Von Jochen Drexler (Sylvester Groth) wird niemand behaupten, er wolle glänzen, groß herauskommen, den Larry machen. Nicht mal lustig will er. Er macht seinen Job. Nicht mehr, nicht weniger. Von WOLF SENFF[Foto:MDR/Oliver Feist]

Familienzusammenführung

Film | TV: TATORT – Türkischer Honig (MDR), 1.1. Die ersten Minuten reißen uns ratzfatz in Abgründe, uns bleibt kaum eine Sekunde, uns über das übernächtigte Gesicht der Eva Saalfeld zu wundern, wir werden in familiäre Verstrickungen geworfen, »Ich bin dein Vater!«, »Du bist Abschaum!«. Nein, »Action« sollte das niemand nennen. Von WOLF SENFF

Zwischen den Kriegen

Roman | Krimi | Robert Hültner: Am Ende des Tages Mit Paul Kajetan hat Robert Hültner in seinem neuen Roman Am Ende des Tages eine Figur geschaffen, mit deren Hilfe es ihm gelingt, seinen Lesern das Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen zu erklären. Die bisher vorliegenden sechs Romane um den unangepassten Mann, dessen Aufrichtigkeit und moralische Integrität ihm Anfang der 20er Jahre seine Polizeikarriere gekostet haben, verbinden spannende Unterhaltung mit einem facettenreichen Zeitporträt. Allerdings sieht es am Schluss des aktuellen Abenteuers ganz so aus, als wäre es Kajetans letzter Fall. – Von DIETMAR JACOBSEN

Nicht auf dem Kasernenhof

Film | Im TV: TATORT – Eine Frage des Gewissens (SWR), 23. November Eine brandheiße Eröffnung. Hysterie, Alarm, Panik, Geiselnahme im Supermarkt. Thorsten Lannert muss sich, erste Schiene der Handlung, für die Tötung des Geiselnehmers verantworten, uns wird korrekt gezeigt, dass in einem solchen Fall die Grenzen polizeilichen Handelns strikt eingefordert werden. Von WOLF SENFF