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Spielregeln

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Spielregeln

Die Abende waren mild, an den Abenden trank Maurice ein Glas Wein. Er war Mitte dreißig, Lassberg hätte ihn auf Anfang vierzig geschätzt. Sie kannten einander seit einigen Jahren, Maurice leitete in Maastricht einen Betrieb, in dem Modeschmuck hergestellt wurde, und buchte ebenfalls im Tsell Harim.

Er beschäftige Lieferanten auf den Philippinen, erklärte Maurice, und vertreibe seine Produkte über Dependancen in Holland, Spanien und Italien; per Fax lasse er sich jeden Morgen über die Auftragslage informieren.

Fünf Jahre noch, sagte Maurice, dann werde er ein Haus auf den Kanaren erwerben, dort habe die Seuche noch nicht Fuß gefaßt, und die Hälfte des Jahres dort leben, sich ein für alle Mal losreißen aus der Zwangsjacke der Termine, sagte er, vierzehn Stunden am Tag wende er für die Firma auf, über freie Wochenenden entscheide der Zufall.

Im September vor zwei Jahren hatte er Sergej kennengelernt, der stets im mondänen Holiday Inn logierte und ihm Rätsel aufgab. Sergej stammte aus Murmansk, er war schweigsam, doch sofern es darauf ankam, sprach er akzentfreies Englisch.

Er hatte Sergej intensiv beobachtet, Maurice hielt sich viel zugute auf seine Menschenkenntnis. Nein, nie im Leben würde er so seriös und souverän auftreten können wie Sergej. Beim Backgammon erlaubte er sich nicht die geringste überflüssige Bewegung – derart unerbittliche Disziplin, argwöhnte Maurice, komme nicht von ungefähr. Die Würfel warf er mit lakonischem Schwung aus dem Handgelenk, kaum daß man es verfolgen konnte. Diese Professionalität lernte niemand zum Vergnügen. Und hatte er ihn je das Lager betreten sehen? Sergej war stets anwesend wie aus heiterem Himmel.

Das war längst nicht alles, doch er behielt das für sich, sogar am Toten Meer galt es, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, jeder Schein trog, nirgends durfte man sich in Sicherheit wiegen.

Die anderen würden ihn auslachen, der sächsische Schachspieler und der professorale Lassberg aus Leipzig würden ihm kein einziges Wort abnehmen, nein, sie würden ihm spöttisch einen Lagerkoller diagnostizieren, Lagerkoller würde jedem im Handumdrehen bescheinigt und sei, würden sie fürsorglich beschwichtigen, nach drei Wochen Aufenthalt keineswegs ungewöhnlich.

Im Lager kam stets eine illustre Gesellschaft zusammen. Vor einigen Jahren war es um fünfhundert Meter nach Süden verlegt worden, weil das Areal für neue Hotels vorgesehen war. Wie zuvor war es in der Mitte unterteilt, durch hohe signalrote Plastikplanen gegen Einsicht geschützt, mit sanitären Anlagen im Eingangsbereich, und euphemistisch als Solarium etikettiert.

Die Patienten trafen am Vormittag ein – die Dänen wie immer pünktlich um viertel vor zehn, die anderen früher oder später – und legten sich auf die bereitstehenden Liegen, die sie sich gegen Mittag unter das Segeltuchdach rückten.

Das Sonnenlicht förderte zwar die Genesung der Haut, ein Sonnenbrand wäre jedoch desaströs, man wäre gezwungen, sich im Schatten aufzuhalten, das Lager wäre tabu, gleich mehrere Tage wären verloren, ein Fauxpas, nicht wiedergutzumachen, du holst die Tage nicht zurück. Ein Neuankömmling mußte achtgeben und durfte keinesfalls übertreiben; die ersten Tage dienten dazu, den Organismus behutsam an die klimatischen Verhältnisse zu gewöhnen.

Während die Sonne sich dem Westen zuneigte, trafen sich einige Männer an dem kleinen weißen Tisch in der Mitte des Lagers, und ein Backgammon-Brett wurde aufgeklappt. Spiele von Maurice und Sergej waren ein Ereignis, sie besaßen Wettkampfcharakter, es ging um dreistellige Beträge.

Auch im Publikum wurden Geldscheine eingesetzt, bei einem exzellenten Wurf kam erregtes Raunen auf, die Leidenschaften flammten hoch. Falls ein Pasch zu großen Schritten verhalf oder es gelang, eine Blockade zu brechen, sah man einander triumphierend an oder stöhnte entsetzt auf. Blicke bangten, wenn einem letzten Spielstein der Weg versperrt blieb und der Spieler warten mußte, daß ein Feld frei wurde und er die passenden Zahlen würfelte.

Die Gestik der Spieler – sie würden sich durch nichts ablenken

lassen – war reduziert, war kaum mehr als ein befreites Ausatmen, ein angespanntes Lächeln und drückte in der erwartungsvollen Stille dennoch leidenschaftlichen Siegeswillen aus, sie beobachteten einander mit lauernden Blicken.

Lassberg und der Schachspieler standen auf, wenn sie Maurice und Sergej an den kleinen weißen Tisch treten sahen, und gesellten sich dazu.

Sergej gab sich professionell, kaltblütig und undurchschaubar, und auch Maurice, den sie als leidenschaftlich kannten, blieb äußerlich ruhig. Verlor er einen hohen Einsatz, wandte er sich verärgert zur Seite.

Lassberg schmunzelte: Die Hitze sediere das Gemüt, sie mache wirr im Kopf, und staunte dennoch, wie konzentriert die beiden spielten, hatte doch das Lager während der ersten Septembertage mittags noch über vierzig Grad.

Der Schachspieler würde am Abend mit Irene in Leipzig telefonieren und ihr amüsiert jene Verbissenheit schildern, die den Temperaturen geschuldet sei. Ob er das nicht bereits unter Lagerkoller zähle, würde Irene ihn fragen.

Maurice ging nicht aus dem Kopf, daß er Sergej mehrmals mit lichtscheuen Begleitern, die sich stets nur für diesen Nachmittag am Toten Meer aufhielten, beim Kaffee im Kapulski hatte sitzen sehen. Wer um alles in der Welt käme auf den Gedanken, auf ein Täßchen Kaffee ans Tote Meer zu reisen? Sie seien an demselben Tag wieder gefahren, hatte Sergej ihm kurz angebunden erklärt. Welches Geheimnis hatte Sergej zu verbergen?

Nein, er ginge nicht so weit, ihn erneut darauf anzusprechen, doch er war inzwischen felsenfest davon überzeugt, in Sergej den Unbekannten vor sich zu haben, den Verfemten, den mysteriösen Verfasser eines verschollenen apokryphen Textes aus dem Umfeld der sogenannten Rebellischen Schriften.

In diesem Manifest, erinnerte sich Maurice, waren ›kompromißlose militärische Abrüstung und die Überwindung der technologischen Exzesse der Moderne als politische Ziele formuliert.

Das also ist unser Sergej, sagte sich Maurice, und um nicht aufzufallen und weil es eine wohltuende Abwechslung war, traf er sich weiterhin zum Backgammon mit ihm und setzte auf Sieg. Das Lager war ein Rückzugsgebiet, ein Refugium am Ende der Welt, und wer weiß, wer sich sonst noch hier aufhielt; per Mobiltelefon und WLAN blieb einer mit allen Regionen der Erde verbunden.

Maurice zweifelte nicht, daß ein Kopfgeld ausgesetzt war, auf solche Existenzen war immer ein Kopfgeld ausgesetzt, und über kurz oder lang würden sie Sergej erwischen, die Söldner und Kopfgeldjäger würden ihn zur Strecke bringen. Obgleich der Kalte Krieg für beendet erklärt war, feierten sie fröhliche Urständ, die herkömmliche Ordnung kollabierte, der Planet war in Aufruhr.

Die ausgesetzten Beträge waren immens, Kopfgeldjäger waren ihren Zielpersonen ununterbrochen auf der Fährte, ihre Technologie war auf dem neuesten Stand und verwiese jeden Wildwestfilm verächtlich in die Steinzeit.

Heutzutage genügte den Auftraggebern authentisches Bildmaterial, die digitale Kommunikation war ein Geschenk des Himmels, und zweifellos ließen sich die Aufnahmen zusätzlich für eine fünfstellige Summe verkaufen, die Spielregeln ließen das zu, absolut, und Maurice war gespannt, welcher Sender die quotenträchtigen Bilder vom Abschuß Sergejs zuerst ausstrahlen würde.

Doch seine Phantasie trieb seltsame Blüten, nicht wahr, denn er hoffte keineswegs, daß es dazu käme, und würde nächstes Jahr im September gern erneut mit Sergej Backgammon spielen.

| WOLF SENFF

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