/

Ausschnitt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausschnitt

Ein Stück nach rechts liegt der Pferdemarkt, nein, von meinem Tisch aus sehe ich ihn nicht, es ist selbstverständlich kein Pferdemarkt, auch das Oktober ist nicht im Ausschnitt, mit Adam war ich einmal im Oktober, damals hieß es noch Oktober, sie boten ein reichhaltiges Buffett an.

Adam hatte für den nächsten Tag seinen Flug nach Sydney gebucht. Er würde seine Wurzeln in Deutschland kappen, er hat Familie und Freunde in Sydney, inzwischen ist er geschieden, das ist zwei, drei Jahre her, nein, mehr weiß ich darüber nicht, er hinterließ letzte Weihnachten eine kurze Nachricht auf dem AB, doch ich kenne weder seine Telefonnummer noch habe ich seine aktuelle Mail-Anschrift.

Straßenszene

Leute gehen durch den Ausschnitt, die verschiedensten Leute, es herrscht reger Betrieb, die Sonne scheint, keine Regenschirme in Sicht, der Blick fällt auf zwei Autos vor der Ampel. Einige Leute gehen über den Zebrastreifen zur anderen Straßenseite oder sie kommen über den Zebrastreifen herüber und anschließend erneut durch den Ausschnitt, es herrscht rege Betriebsamkeit, der Zebrastreifen ist zu drei Vierteln sichtbar.

Eine Frau hält inne, schlank, rothaarig, sie wendet sich um und blickt zurück, bis ein kleines Mädchen ins Blickfeld tritt, zwei, drei Jahre vielleicht, sehr zierlich, sie zieht einen kleinen Hund hinter sich her oder ist es ein Schwan, das Geschehen ist durch die Tische des Restaurants teilweise verdeckt; letztlich dürfte es sich um einen Hund handeln, der von ihr gezogen wird und auf klobigen Rädern hinter ihr her rollt.

Sie dreht sich mehrfach besorgt nach ihrem Hund um, während die Frau ihr bereits ungeduldig die Hand entgegenstreckt, sie verlassen den Ausschnitt gemeinsam.

Längst sind eine Menge Leute durch den Ausschnitt gegangen, ich kann gar nicht auf jeden einzelnen achten, Männer wie Frauen, während ich auf 83 warte, gebratenes Dofu mit Gemüse.

Obgleich der Bürgersteig schmal ist, fahren auch Radfahrer oder schieben ihr Rad durch den Ausschnitt, ein Postbote der DHL parkt und verläßt seinen gelben Transporter, an der Straße sind freie Plätze kaum zu finden.

Im Sommer wird die Glasfront aufgezogen, die Geräusche der Straße dringen herein, man hat den Eindruck, dem Leben nähergerückt zu sein, an den Tisch rechts neben der Glasfront setzen sich zwei junge Frauen.

Vor dem Textilgeschäft gegenüber, neben dem noch vor zwei Jahren ein Friseurgeschäft war, ich ließ dort gelegentlich mein Haar schneiden, die Fluktuation ist immens, steht eine schmale Bank, auf der drei Obdachlose sitzen und ihr Essen verzehren, das sie sich aus dem Restaurant abholen können, sofern sie sich bis Mittag hier einfinden, meistens findet sich ein gutes Dutzend ein, überwiegend Männer, nach wenigen Minuten sind die meisten wieder verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst, es gibt kaum Daten über eine soziale Zuordnung von Obdachlosen, diese Gruppen sind nicht quantifizierbar.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

»Es gilt aber zu leben« (Albert Camus)

Nächster Artikel

Magisches

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Auf Fang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auf Fang

Sie waren bei Tagesanbruch in die Lagune aufgebrochen, in zwei Schaluppen, Pirelli und Mahorner im Bug, Eldin hatte mit der ersten Harpune getroffen, es wurde ein erbitterter Kampf, die übliche blutrünstige Routine, der Ausguck würde sich an derartige Bilder gewöhnen.

Karttinger 4

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 4

Als die Karttinger Nahstoll in seiner Klause zwischen Ahrensburg und Rahlstedt besuchte, unangekündigt besuchte, das brachte ihn auf, schilderte sie ihm, wie in der Vendée das Land, ein weitläufiges Flußdelta, dem Meer abgetrotzt worden sei, das Kanalsystem sei weitläufig erhalten und gehöre ins Ressort Denkmalpflege,  der Sumpf sei trockengelegt, die Hautevolee aus der Hauptstadt habe sich dort eingenistet, sie habe Bücher gelesen, Filme gesehen, erzählte ihm von der Bartholomäusnacht und den Feldzügen gegen die Hugenotten, als hätte er das nicht selbst gewußt, er fand das aufdringlich, doch ihre Stimme schmeichelte seinen Ohren, vom Aufbegehren der Royalisten gegen die Jakobiner, die Vendée sei immer schon widerständig gewesen, auch dieser Tage im Kampf gegen die Rentenreform, doch die Unruhen nähmen überhand.

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Der moderne Mensch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Der moderne Mensch

Sie wissen null, sagte Gramner, und lügen sich in die Tasche.

Wovon rede er, fragte Harmat.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Von der Moderne und ihren Wissenschaftlern, antwortete Pirelli.

Ferne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit.
Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Flamme schlug hoch.
Seit wann reden wir über Krankheiten, fragte Crockeye irritiert, wir haben Verletzungen davongetragen, aber niemand sei krank.
Ein Walfänger, bekräftigte Pirelli, kenne keine Krankheit.
Es sei denn, der Koch tische eintönige Kost auf, mäkelte der Zwilling und warf einen Blick auf Gramner, die Stimmung war nicht besonders friedfertig, es ging auf Mitternacht zu.
Wir reden über ferne Zeiten, protestierte Gramner.
Zukünftige Zeiten, sagte der Ausguck.
Über Krankheiten der Moderne, sagte Thimbleman.