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Faustrecht

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Faustrecht

Farb trug eine Schale mit Pflaumenschnitten auf, er hatte ein Blech gebacken, sie waren noch warm.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Verteilungskämpfe, sagte Tilman, wir erleben Verteilungskämpfe, der Planet ist abgewirtschaftet, seine Ressourcen sind erschöpft, die Situation ist dramatisch.

Farb tat sich vom Kuchen auf, nahm von der Sahne, strich sie sorgfältig glatt und sah mißmutig zu, wie sie sogleich an den Rändern zerfloß.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Und nicht allein, daß die Ressourcen erschöpft sind, sagte er, sondern unsere Lebensgrundlage ist gefährdet, komplett, die Luft, die wir atmen, ist belastet, das Wasser ist verschmutzt, unsere tägliche Nahrung enthält toxische Rückstände, Regionen unseres Planeten werden unbewohnbar, und klar, wir wissen das längst, doch niemand scheint einzugreifen, stattdessen ist das verbliebene Gebiet erbittert umkämpft, die besseren Stücke des Kuchens sind heißbegehrt, und solle doch bitte niemand annehmen, in dieser Lage ließe sich verhandeln und irgendjemand hielte sich an Verabredungen, was gälten noch Menschenrechte, nein, jeder wolle sich wenn nicht den Belag, so doch die Butter zum Brot sichern, jeder sei sich selbst der nächste.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite. Der Menschheit, sagte sie, drohe der  Absturz, ihre Anführer würfen begehrliche Blicke auf fremden Besitz, und im übrigen gelte genau wie damals, als wir in der Sandkiste spielten: Rache ist süß.

Den Letzten beißen die Hunde, sagte Farb und lachte.

Moralische Empörung werde für Machtpolitik instrumentalisiert, sagte Tilman, populistische Sprüche würden intoniert, die Verhältnisse seien außer Rand und Band, ein russischer Präsident okkupiere benachbartes Territorium, automatische Waffensysteme – oh Hagel und Granaten, welch Wunder der Technik, welch grandioser Fortschritt der Menschheit (brüllendes Gelächter) – sortierten sich zum Angriff, die Choreographie des Krieges werde eröffnet, oh hunderttausend Höllenhunde, eine jahrzehntelang etablierte Ordnung wanke.

Doch die Faust, die auf den Tisch haut, heißt es auch, beeindrucke noch nicht einmal den Tisch.

Der Planet sei ausgeblutet, sagte Tilman, seine Ressourcen seien erschöpft, vergebens habe der Amerikaner Grönland kaufen wollen, auch Rußland berge noch ausbeutbare Begehrlichkeiten, zu guter Letzt flüchte man sich in die Luftschlösser des technischen Fortschritts, doch dessen Ingenieure, wenig hilfreich, lieferten Robotwaffen und Kampfdrohnen, nein, nirgends führe ein Weg hinaus.

Tilman blickte hinüber zum Gohliser Schlößchen und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Man stehe einander unversöhnlich gegenüber, sagte er, der Haß werde auf beiden Seiten genährt, im Nahen Osten, wo die Anführer jahrzehntelang das Gespräch verweigert hätten, komme es zu explosiven Gewaltausbrüchen, es geht ein Schnitter der heißt Tod, wie sei das möglich, der Mensch gerate außer Rand und Band, Überlebende aus den Kibbuzim Be’eri und Re’im hätten sich zum Toten Meer in ein Hotel geflüchtet, Gaza werde flächendeckend bombardiert, der furchterregende Dämon des Krieges greife um sich, wer werde der nächste sein, der Sensenmann fahre heuer reiche Ernte ein.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten das rostrote Service mit dem zierlichen Drachen aufgedeckt, Tilman hatte es aus Peking mitgebracht, wo er auf der Großen Mauer einen Halbmarathon gelaufen war.

Weshalb sich das Entsetzen nicht Bahn breche, fragte sie, und weshalb es den Klügeren nicht gebe, der einzulenken bereit sei, weshalb spreche niemand ein Machtwort, es gab doch jene Zeiten, da fertigte man Schwerter zu Pflugscharen.

Der Planet, selbst erhitzt, sei in Aufruhr, sagte Farb, der Mensch widerspiegele auch diese Stimmung, Lärm, Krach, Radau und Feuer und Flamme, und nirgendwo biete sich ein Weg hinaus.

Raketen, höhnte Farb, selbstfliegende Raketen (brüllendes Gelächter), das Gelbe vom Ei, auf geht’s, rief er, innovativ wollen wir sein, rief er, spendieren wir ein Ticket zum Mars, sei’s drum, die Anführer, sie streben nach Höherem, ab damit, sie haben diese Reise verdient.

Annika griff zu einem Vanillekipferl, sie hatten im Geschmack nachgelassen, der Preis für Vanille war seit einigen Wochen drastisch gestiegen, nicht mehr lange und sie würden gänzlich aus dem Angebot gestrichen.

| WOLF SENFF

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Ob sie noch schreibe, wollte Farb wissen.

Anne zögerte zu antworten und griff nach einem Keks.

Oder sei das zu persönlich gefragt.

Keineswegs, nein, wehrte sie ab, im Gegenteil, das sei ein Thema, das sie sehr beschäftige.

Tilman blickte auf.

Farb schenkte Tee nach.

Es war später Nachmittag, Regen schlug gegen die Scheiben.

Im Kamin flackerte künstliches Feuer.

Gewiß, sagte sie, sie schreibe nach wie vor, nur seien die Umstände schwierig, der literarische Markt rotiere mit atemberaubendem Tempo, vergeblich suche man schrittzuhalten, wöchentlich würden neueste Hitlisten präsentiert.

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Was Annika gerade lese, fragte Farb.

Pearl S. Buck, sagte Tilman, sie lebte von 1892 bis 1973, doch wie komme Annika auf diese Autorin.

Sie sei mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden, 1938, sagte Farb, ihr Werk sei nicht unumstritten.

Ihr werde ein in Teilen triviales Niveau vorgehalten, erklärte Tilman.

Sie lese ›Drachensaat‹, sagte Annika, ›Dragon Seed‹, 1942, das Geschehen spiele während des chinesisch-japanischen Krieges, der im Juli 1937 durch einen Zwischenfall südöstlich von Beijing ausgelöst worden sei, sie lese Pearl S. Buck gern, sagte sie, und sei fest entschlossen, mehr von ihr zu lesen.