//

Kulturrevolutionen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturrevolutionen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturrevolutionen

Er habe nachgedacht, räumte Farb ein, er sei neugierig geworden und habe sich informiert.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb warf einen Blick auf seine Tasse, er war vernarrt in den zierlichen rostroten Drachen, nur den Henkel, der sich im oberen Teil gabelte, fand er unpassend.

Tilman war ungeduldig. Farb hätte sich über Echnaton informiert? Wikipedia als Einstieg zum alten Ägypten?

Farb war gespannt. Ob Echnaton vor seiner Gemahlin Nofretete starb, ob sie ermordet wurde, ob sie verstoßen wurde, trat sie etwa als Pharao Semenchkare die Nachfolge ihres Gatten an, die Altertumsforschung wird sich nicht einig, oder war sie jene Königswitwe, die an den hethitischen Hof schrieb und einem dortigen Prinzen die Heirat antrug – dieser Machtwechsel zeigte sich voller Rätsel, niemand kannte die Wahrheit, Farb liebte diese Gemengelagen, diese Dinge waren nach seinem Geschmack, Schlagzeilen, Hofberichterstattung, oh, ein Faß voller Aufgeregtheiten, welch hysterisches Gewese würde hier das Internet veranstalten, oh, frei sein, Party, mitten hinein ins Getümmel: soziale Medien, Haßbotschaften, ein vulkanischer Ausbruch von Emotionen, tiefe Zerwürfnisse bei den Royals, pralle Leidenschaften, ein kolossales Durcheinander, Farb war hingerissen, aber im Ernst, Echnatons Regentschaft muß Probleme aufgehäuft haben.

Doch kaum weniger ereignisreich als dieser Übergang, daran erinnerte Tilman, waren zuvor die siebzehn Jahre Regentschaft gewesen, keine Frage, und – Farb hatte sich eingelesen – der radikale Wandel der religiösen Grundlagen hatte das Land erschüttert.

Im vierten Jahr ordnete Echnaton quasi über Nacht eine religiöse Säuberung an, ergänzte Tilman, in allen Inschriften wurde der Name des Gottes Amun-Re getilgt, auch andere Götternamen wurden gelöscht, die Barke, die tags den Himmel überquerte, war einzig noch mit Aton besetzt, auch Osiris, der Herr über die Unterwelt, verblaßte.

Man muß sich das einmal ausmalen, sagte Tilman und atmete tief, welche Ausmaße, welch gigantische Kulturrevolution.

Keine ruhigen Zeiten, sagte Anne und aß einen Keks.

Farb brachte Tee aus der Küche. Wann hätten je ruhige Zeiten geherrscht, fragte er.

Die herkömmliche Religion, sagte Tilman, sollte abgelöst, totgeschwiegen und vergessen werden.

Genau das geschah nach kurzer Dauer auch mit der so revolutionär neu auftretenden Religion Echnatons, spottete Farb, ein umwerfendes Drehbuch, die Ordnung ein ums andere Mal gestürzt, welch turbulente Zeiten, einerlei, nichts ist von Dauer, die herrschende Kaste kollabierte wie ein Kartenhaus.

Die überlieferte Religion wurde von Echnaton als Lüge, Unwissenheit und Heidentum abgekanzelt, zahlreiche Tempel wurden stillgelegt, ihre Kulte, Riten, ihre Feste, Mythen, Hymnen, Bilder gelöscht, das Ergebnis, die Amarna-Zeit, bescherte eine massive Präsenz der königlichen Familie sowie einen puritanischen Alltag ohne Magie und symbolische Tiefe, eine Welt des Spießertums, wer hielte das aus.

Ihr fiele dazu das Stichwort Informationsgesellschaft ein, warf Anne ein, oder sei das ein provozierender Gedanke, man pflege sich nicht an alten Zeiten zu messen.

Das sei Gegenwart, erinnerte Farb.

Tilman schenkte Tee nach.

Farb überlegte, wie sinnvoll es sein könne, über Jahrtausende hinweg Vergleiche anzustellen. Gewiß, sagte er, sofern man die kulturellen Oberflächlichkeiten einander gegenüberstelle, bestünden Ähnlichkeiten, keine Frage, aber der Gedanke selbst wirke auf den ersten Blick wie an den Haaren herbeigezogen.

Die neue Religion habe Sprachregelungen erlassen, sagte Tilman, unter anderem sei der Gebrauch des Wortes Gott im Plural untersagt worden.

Sprachliche Diktate seien Praktiken totalitärer Herrschaft, sagte Farb, man kenne etliche Beispiele aus der Gegenwart, darin, zugegeben, ähnelten die Zeiten einander.

Also nicht an den Haaren herbeigezogen, konstatierte Anne lächelnd.

Verworrene Zeiten, resumierte Tilman, der finale Kollaps der Amarna-Zeit sei durch die Ausbreitung der Pest ausgelöst worden, die zwanzig Jahre lang in Anatolien und weiten Gebieten des Vorderen Orients gewütet habe und durch gefangengenommene Hethiter nach Ägypten eingeschleppt worden sei.

Der strafende Zorn der Götter, ergänzte Farb, denn so sei die Seuche im Land empfunden worden, habe sich zurecht gegen diejenigen gewandt, die die herkömmlichen religiösen Überzeugungen gewaltsam abgeschafft hätten, und das Ende besiegelt.

Er nahm einen Keks und lehnte sich zurück.

Anne ging in die Küche, Tee aufzugießen.

Tilman lächelte.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Abgeschieden und doch so international

Nächster Artikel

Pure Anarchie

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Eloquenz und Kalauer

Menschen | Zum 80. Geburtstag des kulturellen Tausendsassas Hellmuth Karasek »Manchmal fürchtete ich schon, ich schreib mich in eine Depression hinein«, bekannte Hellmuth Karasek über die Arbeit an seinem 2006 erschienenen Band Süßer Vogel Jugend. Der kulturelle Tausendsassa mit der stark ausgeprägten Affinität zur Selbstironie sprüht aber immer noch vor Tatendrang und hat im letzten Frühjahr unter dem Titel Frauen sind auch nur Männer einen Sammelband mit 83 Glossen aus jüngerer Vergangenheit vorgelegt. Sogar prophetische Züge offenbart Karasek darin, sagte er doch den Niedergang der FDP schon zwei Jahre vor der letzten Bundestagswahl voraus. Von PETER MOHR

Grönland

TITEL | Textfeld: Wolf Senff: Grönland

Sie reden vom Klimawandel, sagte Farb, und schwadronieren von seinen angeblich positiven Seiten.

Die USA haben die Insel käuflich erwerben wollen.

Ein schlechter Witz, spottete Farb, in welchen Zeiten leben wir.

Es gab sogar wiederholte Angebote.

Sie firmiert als größte Insel des Planeten, Tilman, ist zu achtzig Prozent mit einem Eisschild bedeckt, schmale Küstenstreifen sind besiedelt, doch die Temperaturen steigen und Eis schmilzt, Bodenschätze werden vermutet, seltene Erden, jeder sucht seltene Erden, da herrscht kein Mangel an Investoren.

Ausgegrenzt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausgegrenzt

Wer der Natur Schaden zufüge, werde selbst Schaden erleiden, sagte Gramner, so einfach sei das.

Bildoon lachte. Wenn du den Hund angreifst, schnappt er nach dir.

Oder so, sagte Gramner, wer wüßte das nicht.

Primitives Volk, sagte London, unverbesserlich, Gramner zeichne den Menschen der sogenannten Moderne.

Wie blind könne man sein, sagte Thimbleman.

Kartenhaus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kartenhaus

Wie ein Kartenhaus also, nein, nicht sicher, sagte Tilman, für einen Kollaps  ließen sich verschiedene Szenarien ausmalen, der Kollaps könne sich hinziehen.

Farb schmunzelte. Da lebe jemand, spottete er, seinen latenten Zynismus aus.

Interessant, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten das Ming-Service aufgedeckt, rostrot, seit einigen Tagen besaßen sie es auch für drei Personen mit einem lindgrünen Drachen, lieb und teuer, Farb hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, für alles war gesorgt, das Wetter meinte es gut, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Melancholischer Pessimist mit Humor

Menschen | 100. Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer Vor 100 Jahren (am 9. Dezember) wurde der Georg-Büchner-Preisträger Wolfgang Hildesheimer geboren. Von PETER MOHR