Wer möchte nicht gern in die Zukunft blicken? All die kommenden Freuden, Überraschungen, Begebenheiten voraussehen? Zu den Geschenken, die man sich selbst oder anderen bereiten kann, zählt immer ein Kalender für das kommende Jahr. Geschmückt mit literarischen Zitaten und anregenden Texten liegt des Leseglück schon jetzt in unserer Hand. INGEBORG JAISER stellt einige bemerkenswerte Literaturkalender vor.
Mehr als Schiller und Hegel
Bereits im zweiten Jahr erscheint der Kulturkalender für Baden und Württemberg aus dem noch jungen 8 grad verlag. Wer beim Verlagsnamen an das Zeichendreieck seiner Schulzeit oder die empfohlene Trinktemperatur für einen Riesling denkt, liegt nicht ganz richtig. Ein Tipp: ein Blick auf die GPS-Koordinaten des Verlagsortes sind schon zielführender.
Selbstbewusst und regionalverbunden präsentiert ein hochengagiertes und -inspiriertes Team seine Liebe zu Deutschlands Südwesten. Auch im Kalender für 2024 – mit besonderem Augenmerk auf die literarischen, künstlerischen und kulturellen Errungenschaften dieses Landstrichs. Wirbelnd vermengen sich Zeiten, Orte und Ereignisse zu einer erhellenden Gesamtschau. Sprach einst Tacitus im 1. Jahrhundert nach Christus von »wüsten Landschaften, kulturlos, düster, unheimlich«, wird der Obergermanisch-Rätische Limes 2015 in den Kulturerbestatus erhoben. Prophezeite der expressionistische Dichter Ernst Toller »Das Radio und die elektrischen Wellen, die bringen Unordnung in die Atmosphäre«, nimmt 70 Jahre später der Südwestrundfunk seinen Betrieb auf. Und schon eine Dekade nach der Errichtung des Baden-Badener Kurhauses schreibt Nikolai Gogol an seine Mutter: »Ernstlich krank ist hier niemand. Alle kommen nur, um sich zu vergnügen.« Höchst vergnüglich ist auch die wöchentlich neue Erkenntnis, dass das Ländle weitaus mehr als Hegel und Schiller zu bieten hat.
Momentaufnahmen
Literarische Momentaufnahmen der Erinnerung, des Miteinanders, des Anfangs und Aufbruchs sind nur einige Themen, die dieser ikonische Longseller in den letzten vier Dekaden in Szene gesetzt hat. Um schließlich im Literaturkalender 2024 mit Momente der Sehnsucht das treibende dichterische Motiv schlechthin zu umkreisen: in Liebesbriefen, Tagebuchnotizen, Gedichtzeilen, aber auch Auszügen aus Interviews. In gewohnter Weise von der Herausgeberin Elisabeth Raabe treffsicher aufgespürt und arrangiert, wenngleich zum ersten Mal unter der Ägide des Athesia Kalenderverlags erschienen.
Jedes Jahr aufs Neue überraschen Illustrationen und bislang unbekanntes Bildmaterial, wie die blutjunge Francoise Sagan, die auf dem Cover beiläufig wartend in die Ferne blickt. Später: Ein leicht unscharf flirrendes Foto von Jörg Fauser (»vielleicht habe ich Karl May zu spät gelesen und Joseph Conrad zu früh«), die Kopie eines in Persien ausgestellten Führerscheins der unsteten Globetrotterin Annemarie Schwarzenbach (»Das Land ist zu gross, das Leben hier zu abseitig […], zu menschenreich, zu verwirrend, zu ungegliedert«), ein selbstsicherer Max Frisch (»trotzdem werde ich ja nun gelegentlich, wenn es sich gibt, andere Frauen umarmen«) mit einer vom rechten Bildrand abgeschnittenen Ingeborg Bachmann. Als Bonus finden sich im Anhang weiterführende bio-bibliographische Daten, die einem kleinen, feinen Literaturlexikon alle Ehre machen würden.
Eine Weltreise in Gedichten
Wer sagt, dass ein Kinderkalender einer Altersbegrenzung unterliegt? Dass ältere Geschwister, Verwandte, Nachbarn, (Lese-)Paten nicht genauso ihren Spaß haben? Klang- und reimverliebte Leser sowieso. Denn die mehrsprachigen Gedichte des Kinder Kalenders 2024 – sowohl im Original als auch in deutscher Übersetzung abgedruckt – leben vom Vortragen, Rezitieren, Nachsprechen und laut Vorlesen, vom Schauen, Staunen und Entdecken.
Aus dem einzigartigen, rund 675.000 Bände umfassenden Bestand der Internationalen Jugendbibliothek in München wurden auch für diese Ausgabe 53 Gedichte aus 38 Ländern und 30 Sprachen ausgewählt: von Afrikaans über Katalanisch bis Tschechisch, erstmals sogar ein Gedicht in Kreolisch von der Insel Mauritius oder ein jiddischer Text aus Argentinien. In seiner Vielstimmigkeit erschließt dieser unverwechselbare Kalender nicht nur neue Horizonte, sondern regt auch Fantasie und Fabulierlust an.
Der April feiert Rabbit`s Spring mit einem wahren englischen Zungenbrecher: »Snow Goes / Ice Thaws / Warm Paws!«. Im Juni kreischt man übermütig zu einer schrillen Illustration von Philip Waechter: »Sind beim Melken kalt die Finger, wird die Kuh zum Stabhochspringer«. Bis schließlich im August koreanische Schriftzeichen und kubistische Häuserfronten zu einem lyrischen Sommermorgen verschmelzen. Und ein persisches Gedicht aus dem Iran sich blumig geschwungen, »mit Birnen, Pfirsichen, Quitten bestückt«, von Tante Sommer verabschiedet und den Oktober einläutet. Bunter, ausgelassener, tiefsinniger könnte ein lyrischer Jahresbegleiter nicht sein!
Neuer Tag, neues Glück
Mit über 800 Gramm ist er der schwerste, zugleich kompakteste in dieser Riege, auch wenn sein auffordernder Titel Abreißen, loslassen für täglichen Schwund sorgen sollte. Jeden Morgen wird man eines neuen literarischen Zitats, klugen Spruchs oder Bonmots ansichtig, über das sich einen ganzen Tag lang nachsinnen lässt. Und 2024 scheint ein amüsantes Jahr zu werden!
»Liebe fängt immer damit an, dass man mit jemanden etwas trinkt«, gesteht Amélie Nothomb leicht verkatert zum 1. Januar. Wobei Scott F. Fitzgerald den ausgelassenen Reigen zum 31. Dezember wieder schließt: »Ich mag große Partys. Sie sind so intim. Auf kleinen Partys ist man nie unter sich.« Doch zwischen diesen beiden hedonistischen Eckpunkten erfährt man übers Jahr hinweg sehr viel Erhellendes über Literatur und Leben. Verkündet von Schriftstellern und Akteuren aus dem weitreichenden Diogenes-Kosmos (dessen unverkennbares Corporate Design auch dieses Werk trägt) – aber nicht nur. Gleich mehrfach lässt sich dieser Tageskalender nutzen: zum Aufstellen oder Aufhängen, zum Abtrennen und Teilen. Darüber würde sich auch Annette von Droste-Hülshoff freuen, die einst vorausschauend bekannte: »Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möchte ich gelesen werden.«
Es muss nicht immer Kaviar sein
Nicht erst, als Johannes Mario Simmel tolldreiste Abenteuer und auserlesene Kochrezepte zu einem Agentenroman vermengte, wurde Kulinarik literatur- und zitierfähig. Denn seit jeher wird in Romanen und Erzählungen kräftig geschnippelt und gebraten, geschmort und geschmaust. Ein wahres Eldorado für Sybil Gräfin Schönfeldt, der Grande Dame der Esskultur und Tischsitten und zugleich Herausgeberin des Literarischen Küchenkalenders. Mit lukullischer Lust verschmelzen hier Zitate belletristischer Werke, erprobte Rezepte und köstliche Illustrationen zu einer Melange des Genusses.
53 Kalenderblätter laden zur Lektüre appetitanregender Werke ein, die von Tafelfreuden und Tischgesprächen berichten. Verfasst von Adriana Altaras bis Yasmina Reza, von Anton Čechov bis Walter Kempowski. Sie beschwören die Herrlichkeit einer Gemüselasagne (wie Bonnie Garmus in Eine Frage der Chemie) oder die verbindende Kraft von Saltimbocca mit Safranrisotto (wie Peter Stamm In einer dunkelblauen Stunde beschreibt). Zum Dessert empfiehlt sich eine Zwetschenwähe aus Franz Hohlers Enkeltrick. Oder lieber jene Rote Grütze, die die Buddenbrooks nach einer »Vesper-Mahlzeit« verzehren, um hernach zwischen »Johannis- und Stachelbeerbüschen, Spargel- und Kartoffelfeldern« zu spazieren?
Titelangaben
Kulturkalender für Baden und Württemberg 2024
Hrsg. von Victoria Salley und Stephan Thomas
Freiburg: 8 grad verlag 2023
24 Euro
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Der Literatur Kalender 2024: Momente der Sehnsucht
Hrsg. von Elisabeth Raabe unter Mitarbeit von Klaus Blanc
Unterhaching: Athesia 2023
24 Euro
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Abreißen, loslassen 2024
Zürich: Diogenes 2023
18 Euro
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Der Kinder Kalender 2024
Hrsg. von der Internationalen Jugendbibliothek
Frankfurt am Main: Moritz Verlag 2023
24 Euro
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Der literarische Küchenkalender 2024
Hrsg. von Sybil Gräfin Schönfeldt
Unterhaching: Athesia 2023
22 Euro
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