Pure Anarchie

Kinderbuch | Frauke Angel: Hagar die Schreckliche

Spielplätze haben Regeln, die meist von Müttern gemacht scheinen. Zumindest werden sie von ihnen überwacht. Die dadurch entstehende geordnete Langeweile muss aber gar nicht sein – wenn man ein paar Regeln verletzt. Gut so! Findet ANDREA WANNER.

Das Buchcover zeigt ein Mädchen, das auf dem großen Ast eines Apfelbaums steht. Sie hat einen Apfel auf dem Kopf, auf dem ein Vogel sitzt.Spielplatzöde pur. Vier Kinder mit Sandeimerchen und Förmchen, dazu drei Mütter – mit Sandeimerchen und Förmchen. »Fußballspielen untersagt« mahnt ein Schild auf dem Hof der Mietshäuser. Und »kein öffentlicher Spielplatz«. Alles wirkt geordnet und ordentlich. Fast alles. Denn da taucht auch schon Hagar auf.

Die kleine Ich-Erzählerin kommentiert das Erscheinen des neuen Mädchens, das da barfuß über den Hof spaziert mit ihrem locker geflochtenen Zopf, dem karierten Hosenrock, dem Spaten, Rechen und Seil mit einem »Uns gefällt’s«. Die Mütter wiederum finden die Kleine schrecklich. Den Namen. Die Frisur. Die Klamotten. Aber vielleicht spüren sie auch von Anfang an, dass Hagar anders ist, nicht so leicht bereit, sich an blöde Regeln zu halten, die nur zum Spaßverderben da sind. Von Hagar mit ihrem Zahnlückengrinsen geht etwas Subversives aus. Da kommt eine, die genau weiß, was sie will. Und der Verbotsschilder schlicht schnuppe sind.

Den meisten wird beim Titel dieses Bilderbuchs Hägar, der Schreckliche einfallen. Und natürlich ist die Anspielung an den Wikinger im Comic kein Zufall. Wobei der Name Hagar aus dem Hebräischen kommt und »die Fremde« bedeutet. Fremd ist sie, Anders. Wild und unternehmungslustig wie eine Pippi Langstrumpf. Ohne Aufpasser*in im Gefolge. Allein, selbstständig und wild entschlossen, in diesem Hof genau das zu tun, wozu sie Lust hat. Schließlich steht da dieser wunderbare Apfelbaum, voll mit reifem Obst. Natürlich ist das Klettern und Schaukeln, das Schnitzen oder sonst etwas, was mit diesem Baum zu tun hat, untersagt. Und natürlich ist es Hagar egal. Hast du nicht gesehen: Schon ist sie oben. Mit ihrem Seil und Karabinerhaken verschwindet sie zwischen den Blättern und Früchten. Ein Skandal. Gefährlich bis zum Gehtnichtmehr. Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte.

Frauke Angel hat eine wunderbare Heldin geschaffen, die Bewegung in einen lahmen Hinterhof bringt. Man schließt sie sofort ins Herz und spürt, dass Hagar genau das ist, was die überbehüteten Kids mit ihren Sandkuchen backenden Helikoptermüttern brauchen. Action. Spaß. Bewegung. Josefine, Tristan, Isolde und die Ich-Erzählerin scheinen nur darauf gewartet zu haben, dass eine wie Hagar die Szene betritt. Kleine Verstöße gegen das, was sich gehört, schleichen sich schon vorher ein … Oder glotzen Mütter etwa? Da ist schon in der Wortwahl ein bisschen Aufmüpfigkeit zu spüren. Aber noch sind die vier gehorsam bis zum Abwinken. Es wird sich ändern.

Den herrlichen Kontrast zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Einheitsfassaden der Mietblocks und üppigem Grün des Apfelbaumes hat Volker Fredrich wunderbar in Szene gesetzt. Üppig bestückt er die Illustrationen mit roten Äpfeln, verleiht dem Nachmittag draußen durch kleine Collagenteile etwas Unwiderstehliches. Er fängt die Gefühle der Beteiligten in überspitzten Mienenspielen in Comicmanier ein und zaubert nach Ekel, Wut und Fassungslosigkeit am Ende ein Lächeln in alle Gesichter. Ein perfektes Bilderbuch, dem nur das Apfelkuchenrezept im Anhang fehlt.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Frauke Angel: Hagar die Schreckliche
Mit Illustrationen von Volker Fredrich
München: Tulipan 2022
32 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kulturrevolutionen

Nächster Artikel

Auf der Seite der Guten

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Widerstreit der Gefühle

Kinderbuch | Marie Norin, Emma Adbåge: Lyra ist ganz heimlich Die ganz Kleinen haben es noch leicht, denkt man manchmal. Sie sind spontan in ihrem Fühlen, noch weit entfernt von dem Hin und Her und den Verwicklungen, die die Emotionen Älterer kennzeichnen. Das ist ein gewaltiger Irrtum, auch die ganz Kleinen kämpfen schon mit Gefühlen. Davon erzählen Marie Nordin und Emma Adbåge in dem Bilderbuch Lyra ist ganz heimlich, die eine mit Worten, die andere mit ihren Bildern. Von MAGALI HEISSLER

Idyll mit Käsebroten und Klopapierrollen

Kinderbuch | Jeremy Strong: Zwei wie Gürteltier und Hase

Gute Freunde müssen nicht immer einer Meinung sein. Aber wenn es notwendig ist, halten sie zusammen. So wie Gürteltier und Hase. Von ANDREA WANNER

Andere Welt – gleiche Probleme

Kinderbuch | Constanze Spengler: Die Hexe, die sich im Dunkeln fürchtete Man glaubt ja immer, dass die, die zaubern können, ein paar Sorgen und Probleme weniger haben als die, bei denen Magie kein bisschen wirkt. Sieht man genauer hin, ist das Leben einer Hexe aber gar nicht so verschieden von unserem. Weil die Hexe nämlich, abgesehen davon, dass sie hexen kann, genauso fühlt wie Menschen auch. Besonders schlimm fühlt sie sich, wenn es dunkel wird. Aber wer etwas auf sich hält, findet sich nicht mit der Angst ab. Constanze Spengler hat mit Die Hexe, die sich im Dunklen fürchtete, ein

Pure Magie

Kinderbuch | Norman Messenger: Stell dir vor … Das Wunder-Bilder-Buch Stell dir vor, du hast Durst, eine Tasse und eine Teekanne. Aber leider eine Kanne ohne Ausguss. Stell dir ein Haus vor, aus roten Backsteinen, einem Dach nebst Dachrinne und einer grünen Haustür. Und stell dir vor, das Haus hat kein einziges Fenster. Stell dir eine Uhr vor, eine schöne, bemalte Uhr mit Zifferblatt und den Zahlen von Eins bis Zwölf. Aber ganz ohne Zeiger. Verrückt? Norman Messenger nimmt uns mit in eine Welt, in der all das möglich ist. ANDREA WANNER staunt.