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Ferne III

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne III

Seltsam, sagte Sut, sei, sich gegen Zukunft abzugrenzen.

Bildoon verstand das Problem nicht. Ein Problem? Jedenfalls klang es danach. Und überhaupt, wie kam Sut dazu, sich gegen die Zukunft abzugrenzen – das war starker Tobak, auf diesen Gedanken mußte jemand erst einmal kommen. Bildoon wurde neugierig.

LaBelle sah eine Sternschnuppe aufblitzen.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Die Flammen schlugen hoch.

Ansonsten geschah wenig.

Dann hörten sie hastiges Atmen, es war der Ausguck, er schälte sich aus der Dunkelheit.

Harmat beneidete seinen Freund darum, daß dieser sich unbefangen einem Thema zuwandte, das mit dem Walfang aber auch gar nichts zu tun hatte. Gut, die erzwungene Pause riß die gesamte Besatzung aus dem Alltagstrott heraus, sie lagen untätig in der Ojo de Liebre, nicht ohne Spannung, doch nicht unangenehm, unter subtropischen Temperaturen ließe sich das einige Tage aushalten, und das mochte Bildoon die Sympathie für ausgefallene Gedanken verliehen haben.

Die Zukunft, erklärte Sut, sei vor allem nüchtern. Der Mensch nenne sich Homo Sapiens und schmücke sich mit Wissenschaften und mit der Produktion vielfältiger Waren. Allesamt, betonte Sut, überaus ernsthafte Angelegenheiten. Der Mensch gelte sich als das Resultat eines evolutionären Kalküls, zum Besseren, immer zum Besseren, und mit einem Urknall, den schwatzte ihm die Astrophysik auf, habe alles begonnen.

Der schmunzelnde, amüsierte Gestus war unverkennbar, und Touste horchte auf. Wie stets, wenn er einen Gedanken fassen wollte, griff er zu seiner Gitarre und summte eine Melodie.

Rostock starrte in den Himmel.

Aldebaran im Stier, auch Oculus Tauri, stand an vierzehnter Stelle der hellsten Sterne, von der Erde aus gesehen, so etwas wurde gemessen und in eine Rangliste gefügt, Wega in der Leier war der hellste und befand sich derzeit innerhalb der sogenannten Lokalen Flocke, die Dinge waren kompliziert, die Astrophysik prognostizierte zurück und im Voraus, das Sonnensystem durchquerte die Lokale Flocke seit rund sechzigtausend Jahren und würde sie in voraussichtlich zweitausend Jahren verlassen, so etwas ließ sich errechnen.

Der Ausguck war mit den Gedanken woanders. Er fühlte sich in einer Stimmung, in der man einen Drachen steigen ließe, daran war natürlich jetzt nicht zu denken, aber er hätte seinen Spaß daran, der Wind stand ungewöhnlich günstig, ein Drachen hielte sich vorzüglich am Himmel, es wurde sogar erzählt, daß man das Seil feststellte und, sofern man nach einer halben Stunde wiederkehrte, sich der Drachen hoch bis fast unter die Wolken an derselben Stelle halte.

Schön und gut, sagte Sut.

Pirelli unterdrückte ein Lachen. Was das wohl sein sollte, überlegte er, ein Urknall. Er konnte sich nichts darunter vorstellen. Ein brandneues Narrativ, das wie üblich dazu bestimmt war, sich abzunutzen? Der Mensch wolle unterhalten sein, er benötige nach einer gewissen Weile eben seine Abwechslung, Spaß muß sein, wie wenn es an der Zeit wäre, ein abgetragenes Wams zu wechseln, und was ihm noch alles an Unfug einfallen werde: künstliche Intelligenz, selbstfahrende Autos, Geo-Engineering, digitale Kommunikation, ChatGPT, Killerdrohnen, darauf mußte jemand auch erst einmal kommen – oder, ganz anders gewendet, daß die Existenz der Spezies durch einen Urknall ihr Ende fände. Sei’s drum.

Und dennoch, eine Sorgenfalte legte sich über Suts Stirn, der Mensch sei entwurzelt, sagte er, und finde keinen Halt im Leben. Daß er nüchtern zähle, messe und sich einrede, er könne die Welt erklären und verstehe die Abläufe, sei ihm keine Stütze und verleihe ihm keine Sicherheit, im Gegenteil, nur desto zwingender bedränge ihn die eigene Ohnmacht.

Aber sich schützen vor der Natur? Dieser Gedanke sei ihm fremd, sagte sich Touste. Eine Brigg wie Scammons ›Boston‹ bewege sich inmitten der Natur, sie finde ihren Platz in der Ordnung der Stürme und der Gezeiten, wie anders sei das möglich, der erfahrene Seemann wisse die Segel zu setzen und seinen Bestimmungsort anzusteuern, wie könne ihm das wider die Elemente gelingen. Absurde Gedanken.

Nein, das meine der Mensch nicht ernst, überlegte Sut, die Angelegenheit mit dem Urknall, wie stelle er sich das vor, ebenso die Geschichte mit dem Wachstum und dem Fortschritt, welch blühende Phantasie, Sut schmunzelte. Luftschlösser, sagte er sich, der Wunsch sei Vater des Gedanken, der Mensch müsse sich das aus dem Kopf schlagen, und Vorsicht – grenzenloses Wachstum, das sei kein Prinzip des Lebens, sondern richte die Zivilisation zugrunde.

Gramner setze die Dampfschiffahrt als eine verhängnisvolle Zäsur, als einen Kippunkt, einen Bruch im Lauf der Dinge, sagte Sut, und er widerspräche dem nicht. Sei der Anblick der Windjammer nicht jedesmal hinreißend gewesen, jenseits von Gut und Böse, wie aus dem Nichts tauchten sie geräuschlos zwischen den Wogen auf, überwältigende schwebende Geschöpfe aus einer ewig geheimnisvollen Welt, mächtig, und dennoch sanft an die Stürme geschmiegt, und was bedeute dagegen das röchelnde Getöse der Dampfer, schmierig und stinkend, mit dem die industrielle Welt wider die Natur ankämpfe.

Das sei die Zukunft, ergänzte Sut, leider, sagte er, gezeichnet von einer unausrottbaren Gier und Herrschsucht, von einem anhaltenden Krieg gegen die Natur und einer Unfähigkeit, sich in ihre Abläufe zu integrieren, wer solle das verstehen.

Der Ausguck stand auf und verschwand in der Dunkelheit, sie hörten ihn einige Schritte laufen und einen Salto schlagen.

| WOLF SENFF

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