Wenn der Zaunkönig singt

Kurzprosa | Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch

»Wenn der Zaunkönig singt, dauert es nicht mehr lange bis zum Sonnenaufgang.« Diese kurze Phase will die Protagonistin in Hans-Ulrich Treichels neuer Erzählung Tagesanbruch nutzen, um sich von ihrem gerade verstorbenen Sohn zu verabschieden und gleichzeitig eine Lebensbeichte abzulegen. Von PETER MOHR

treichelTreichel, der seit den 1990er Jahren als Dozent am Leipziger Literaturinstitut tätig ist, greift ein bekanntes und von ihm mannigfaltig variiertes Sujet auf – die tragische Familiengeschichte. Seine Eltern haben nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht aus Osteuropa ihren älteren Sohn verloren, Gewalt erlitten und sich zeitlebens von diesem Trauma nicht erholt.

Schweigen dominierte den Alltag, die Eheleute sprachen untereinander nicht über die Vergangenheit und schon gar nicht mit dem 1952 geborenen Sohn. »Man muss nicht alles mit seinen Kindern bereden. Man muss auch schweigen können«, heißt es in der neuen, nicht einmal 100 Seiten umfassenden Erzählung, in der kein Wort zuviel oder am falschen Platz steht.

Die Mutter erzählt ihrem erwachsenen Sohn, den sie nach seiner schweren Krebserkrankung zu sich genommen und bis zu seinem Tod aufopferungsvoll gepflegt hat, ihr eigenes beschwerliches Leben. Die Kraft dazu hat sie – offensichtlich – erst nach dessen Tod gefunden. Der Tod wirkt hier gleich doppelt als Erlösung und als Befreiung – für die traumatisierte Mutter ebenso wie für den vom Krebs zerfressenen Sohn.

Bei Treichels Ich-Erzählerin, die deutliche autobiografische Züge seiner Mutter trägt, fällt eine Last ab, sie führt Selbstgespräche über ihr Leben und will alles zu Papier bringen, aus dem Schutz der Dunkelheit heraus erzählt sie sich in Richtung Sonnenaufgang – von Vogelstimmen begleitet.

Über allem thront der Zweifel, ob ihr verstorbener Mann der leibliche Vater des gerade verlorenen Sohnes ist. Welch eine schreckliche Konstellation! In der allein gelassenen Frau nagen tiefe Zweifel mit geradezu selbstzerstörerischer Wirkung.

Wir haben es hier zwar mit einem selbsttherapeutischen Monolog der Mutter zu tun, ein Abarbeiten an der Vergangenheit und der eigenen Verschwiegenheit, doch dadurch dass der Sohn direkt angesprochen wird, erhält der Text eine intime, ja beklemmende Intensität.

Der rasante wirtschaftliche Aufschwung, der durch die Anschaffung eines Klaviers, das wie ein Museumsstück im nur am Wochenende beheizten Wohnzimmer präsentiert wird, zum Ausdruck gebracht wurde, hat vieles kaschiert. Zumindest auf die Außenwirkung war die Familie stets bedacht, nach innen haben sie sich selbst zu Meistern des eisigen Schweigens dizipliniert. Ganz nach dem verhängnisvollen Motto: Wer spricht, offenbart Schwächen.

Das Leben der Mutter war von lebenslangem Verzicht dominiert. Sie wollte Lehrerin werden, stand aber im Textilgeschäft beinahe rund um die Uhr hinter der Theke und führte ein mehr als bescheidenes Dasein in der provinziellen ostwestfälischen Kleinstadt Versmold – einer »trübsinnigen Ansammlung von Zweifamilienhäusern und Umgehungsstraßen.«

Tagesanbruch ist ein erschütterndes Buch über eine Generation, die keine Chance auf ein selbst bestimmtes Leben hatte – mehr als nur die Fortsetzung von Treichels Meisterwerk Der Verlorene (1998). Es ist auch ein einfühlsamer Versuch, die Mutter verstehen zu wollen, um ihr so manche Lieblosigkeit verzeihen zu können. Nur auf der Waage hat dieses schmale Bändchen das Nachsehen gegenüber großen Romanen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
88 Seiten. 17,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

reinschauen
| Leseprobe
| mehr von Hans-Ulrich Treichel in TITEL kulturmagazin

 

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Philosophische Gedanken

Nächster Artikel

Daily Soap in Lack und Leder

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

PETM

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: PETM

Auch der Einbruch der Eiszeit habe die Anzahl der Lebewesen drastisch reduziert, sagte Anne, immer wieder gebe es Brüche, die die Dinge durcheinanderwerfen, daß man nichts wiedererkenne.

Das Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum müsse ein extrem tiefgreifender Bruch gewesen sein, sagte Tilman, es werde von der Forschung auf etwa 55,8 Millionen Jahre vor unserer Zeit datiert, habe sich über rund zweihunderttausend Jahre hingezogen und sei, gemessen an der Erdgeschichte, dennoch eine flüchtige Phase gewesen, die man ignorieren könnte, wären ihre Auswirkungen nicht so verheerend gewesen.

Für den Menschen sind zweihunderttausend Jahre eine endlos lange Zeit, sagte Anne und lächelte. Sie legte sich eine Pflaumenschnitte auf und schenkte Tee nach.

Tilman nahm einen Löffel Schlagsahne, es war ein angenehmer Sommmertag.

Christians Variante / Karttinger 3

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Christians Variante/ Karttinger 3

Sie hatten noch auf der Terrasse gesessen und Mühle gespielt, Christians Kopf glänzte unter dem Mondlicht, er setzte seine Steine und verschob sie, bis Thomas keinen einzigen Stein bewegen konnte, er war eingekesselt, gelähmt, das ging nicht mit rechten Dingen zu, war es überhaupt regelkonform.

Bereits während der Busreise hatte er sich gewundert, und nun ärgerte er sich, weil er Christian nicht beizeiten gedrängt hatte, sich akkurat an die Regeln zu halten, es war ein Elend, und gegen diese Spielweise standzuhalten, daran war schwerlich zu denken.

Faustrecht

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Faustrecht

Farb trug eine Schale mit Pflaumenschnitten auf, er hatte ein Blech gebacken, sie waren noch warm.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Verteilungskämpfe, sagte Tilman, wir erleben Verteilungskämpfe, der Planet ist abgewirtschaftet, seine Ressourcen sind erschöpft, die Situation ist dramatisch.

Farb tat sich vom Kuchen auf, nahm von der Sahne, strich sie sorgfältig glatt und sah mißmutig zu, wie sie sogleich an den Rändern zerfloß.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Ankommen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ankommen Er sei nicht angekommen im Leben, behauptet Gramner: Wie meint er das? Ist das ein Problem? Was bedeutet es denn, Tilman, daß jemand ankommt im Leben? Du kommst ja im Leben nicht an wie ein ICE, der in den Bahnhof einläuft, oder? Nein, eher nicht. Gramner hat eben das Gefühl, er müßte ankommen im Leben, Susanne. Das vermißt er. Gut möglich.

Zukunft II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff:  Zukunft II

Doch, auch der Mensch, sagte Rostock, selbstverständlich.

Er werde es nur nicht beizeiten gemerkt haben, sagte Thimbleman.

Er werde es nicht wahrhaben wollen, sagte der Ausguck.

Wem falle es leicht, sagte der Rotschopf, den kritischen Blick auf sich selbst zu richten.

LaBelle hätte gern eine Kleinigkeit gegessen.

Touste starrte unverwandt auf die Sterne.

Die Nacht in der Ojo de Liebre war mild.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.