Es gibt Märchen, die so in ihren Bann ziehen, dass man die geheimnisvolle Welt gar nicht mehr verlassen möchte. Dazu gehört auch die Geschichte der Schneiderin Maia Tamarin, findet ANDREA WANNER.
Maia wächst in einer Welt voller Krieg und Not auf. Ihre Mutter ist früh gestorben, das Leben mit Baba, ihrem Vater, der ein Schneidermeister ist, und ihren drei älteren Brüdern macht sie dennoch glücklich. Finlei, der Älteste, ist ein mutiger Abenteurer; Sendo ein Träumer, der sich Geschichten ausdenkt; und Keton ein immer gut gelaunter Spaßmacher. Für das Schneiderhandwerk taugen alle drei nicht.
Nur Maia verfügt über die notwenige Geduld und Sorgfalt. Unter ihren flinken Händen entstehen aus Stoff und Garn kleine Kunstwerke. Aber das Glück der kleinen Familie endet, als auch Finlei, Sendo und Keton in den Krieg gegen das Nachbarkönigreich ziehen müssen. Die beiden älteren fallen in der Schlacht, Keton kehrt mit schweren Beinverletzungen und gebrochen zurück.
Dann ist Frieden. Eines Tages steht ein Bote des Kaisers in der Werkstatt, um den Vater abzuholen: Der Friede soll durch eine Hochzeit des Kaisers mit der Königstochter des befeindeten Nachbarreiches besiegelt werden. Und die Braut braucht Kleidung, die Baba als Meister nähen soll.
Der alte Mann ist viel zu schwach für diese Aufgabe und Maia fasst einen waghalsigen Plan: als Junge verkleidet will sie in der Rolle als ihr Bruder Keton die Herausforderung annehmen. Mit den Ermahnungen ihres Bruders und dem Segen ihres Vaters, der ihr als Abschiedsgeschenk eine kleine goldene Schere gibt, die einst ihrer Großmutter gehört haben soll, macht sie sich auf den Weg auf ein ungeheures Abenteuer.
Elizabeth Lim macht daraus drei Teile. »Die Prüfung« lautet der erste, wo Maia im Sommerpalast des Kaisers feststellen muss, dass es ein Wettbewerb um den Posten des Hofschneiders gibt, zu dem zwölf Meister aus dem ganzen Land geladen wurden.
Die Aufgaben, die sie in kürzester Zeit bewältigen sollen, sind eigentlich nicht zu leisten und Lady Sarnai, die zukünftige Braut, ist mit nichts zufrieden. In der Werkstatt entstehen Stolen und Pantoffeln, Jacken und Kleider, bestickt mit Perlen und Pailletten, aus Samt und Seide, bemalt mit den wundervollsten Farben. Aber der Wettkampf ist nicht fair, es gibt Ränke und Intrigen, Betrügereien und Sabotage. Und nur einer kann gewinnen. Maia findet einen unvermuteten Verbündeten.
Viel mehr darf man über dieses üppige Märchen nicht verraten. Es mündet in eine Liebesgeschichte (die ein wenig kitschig geraten ist), überzeugt aber durch Erzählpassagen, die poetisch und spannend sind und dabei immer aus der Perspektive einer fantasievollen jungen Schneiderin erzählt werden. So wird beispielsweise der Himmel in ihren Beschreibungen zu einem Flickenteppich aus dichten grauen Wolken, die so eng aneinandergenäht sind, dass das dahinterliegende Licht kaum durchzudringen vermag.
Magie und Rätsel warten auf Maia, die im zweiten Teil, »Die Reise« drei Prüfungen bestehen muss: eine des Körpers, eine des Geistes und eine der Seele. Was sich anschließt, ist ein kürzerer, dritter Teil: »Der Schwur«.
Und wer dann nach knapp 450 Seiten das Buch aus der Hand legen muss, weil er am Ende angekommen ist, sei damit getröstet, dass eine Fortsetzung folgen wird.
Bis dahin kann man von besonderen Gewändern träumen – oder sich eines nähen: das Schnittmuster in vielen Größen gibt es hier.
Titelangaben
Elizabeth Lim: Ein Kleid aus Seide und Sternen
(Spin the Dawn, 2019). Aus dem Englischen von Barbara Imgrund
Hamburg: Carlsen 2020
445 Seiten, 16 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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