Schwere Vergehen

Jugendbuch | Lea Dittrich: Die Dinge, über die wir schweigen

Schmerzliches verschweigt man gern. Davon verschwindet es aber nicht. Im Gegenteil, es verwandelt sich leicht in eine Lüge. Eine Lüge zieht die nächste nach sich und bald andere Vergehen. Ob sich da noch etwas retten lässt? Lea Dittrich hat es versucht. Von MAGALI HEIẞLER

Dittrich - Dinge ueber die wir schweigen 350Mimi ist überzeugt, dass sie sich an ihre Mutter erinnert. Das ist allerdings unmöglich, denn ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben. Das sagt ihr Vater und das ist auch der Grund, warum es keinen Kontakt zur Familie ihrer Mutter gibt. Was ihr Vater nicht weiß, ist, dass Mimi inzwischen geradezu besessen nach ihrer Mutter sucht. Sie verfolgt Frauen, die dem Aussehen nach Ähnlichkeit mit ihr besitzen, fotografiert sie, bestiehlt sie sogar, um ihre Namen herauszufinden.

Als überraschend eine Postkarte eines Bruders ihrer Mutter eintrifft, weiß Mimi nur eins: Sie wird zu ihrem Onkel fahren, um mit ihm über ihre Mutter zu sprechen. Umgehend, ohne Rücksicht auf Verluste. Und das tut sie.

Verluste

Das Thema des Buchs ist ein besonderes und macht die Lektüre attraktiv. Erinnerungsfetzen wechseln sich ab mit Beschreibungen von Mimis auffälligem Verhalten angesichts junger Frauen, die ihr vermeintlich ähnlich sehen. Das Rätsel hinter dem Ganzen hält nicht nur das junge Zielpublikum am Lesen. Mimi ist eine sperrige Heldin und was sie durchzumachen hat, trägt zu ihrer Sperrigkeit bei.

Dittrich weckt viel Verständnis für die Vierzehnjährige und ihr Leiden am Verlust der Mutter. Sie vergisst auch die normalen Probleme der Pubertät nicht, die zu bewältigen sind. Die Schule, der Platz innerhalb der Klassengemeinschaft, das Gefühl, nicht hübsch genug zu sein oder immer noch ein Kind in den Augen des Vaters. Und natürlich die erste Verliebtheit.

Mit der Ausgestaltung von Mimis Alltag wird die Handlung gelegentlich von Trivia überfrachtet. Die eigentlichen Themen, die Verlusterfahrung und Mimis daraus resultierendes zwanghaftes Fehlverhalten, wird abgefedert, möglicherweise, um das Publikum nicht zu stark zu beunruhigen. Das ist schade, so schwerwiegende Themen sollten nicht verschenkt werden.
Zumal Dittrich fähig ist, bekannte Zustände und Gefühle so verquer zu formulieren, dass man sie liest, als wären sie neu. Etwa, wenn eine nicht stattgefundene Aussprache zwischen Mimi und ihrem Vater von Mimi mit den Worten kommentiert wird »Er schwieg sich durch die Wahrheit«.

Auch beim Abhauen, beim Umgang mit dem Onkel und dem Fortgang der Muttersuche, wird eher auf Abenteuer und Gefühliges gesetzt, während die Schwierigkeiten mit dem Teelöffel zugesetzt werden. Allemal interessant sind die Figurenzeichnungen. Es treten nur wenig Personen auf, sie sind aber eindrücklich genug, dass sie im Gedächtnis bleiben.

Und die Verantwortung?

Da hier eher auf Unterhaltung gesetzt wird, und nicht auf eingehende Auseinandersetzung mit einer problematischen Grundsituation und ihren Folgen, wird das letzte Drittel des Buchs immer versöhnlicher. Was ein ernsthafter Beitrag zur Frage verantwortlichen Verhaltens von Erwachsenen wie Jugendlichen hätte werden können, gerät zu einem Hohelied auf die Familienidylle. Das ist unrealistisch und Roman pur, auch wenn es schön geschrieben ist. Werbung für Frühstücksmarmelade mit Familientisch ist auch schön.

Leider ändern sich Menschen nicht über Nacht und wer von jung auf eingeflößt bekommt, dass sich am Ende immer alle lieben, sieht einer beträchtlichen Menge Frustration im Leben entgegen.
Bedacht werden sollte auch, dass man Fehlverhalten wie das von Mimi nicht übergeht. Stalking, Verletzung von Persönlichkeitsrechten, Diebstahl, Lügen, andere mit in ihre Eskapaden hineinziehen, egal, ob es Folge psychischen Drucks war, es geschah wiederholt, gezielt und diente allein Mimis Zwecken. Die zentrale Auseinandersetzung damit fehlt. Ein paar düstere Blicke, ein bisschen schlechtes Gewissen und Herzflattern ersetzen das Unrechtsbewusstsein, ein paar Tränchen fließen, mehr aus Angst als aus reuiger Einsicht und schon ist alles in Ordnung. Vor lauter Streuselkuchenglück im trauten Kreis kommt das nicht zur Sprache zwischen den Hauptbeteiligten, nämlich Mimi und ihrem Vater.

Tatsächlich gerät ausgerechnet die Heldin so zu einer Egoistin, die unter dem Vorwand der Wahrheitssuche jegliche Rücksichtnahme auf andere über Bord wirft. Damit passt sie, offen gesagt, ausgezeichnet in diese »Familie«, in der jede und jeder mit der Realität umgeht, wie es ihr oder ihm gefällt. Am Ende werden sie belohnt, Mimi an erster Stelle.

Das ist unseligerweise die unterliegende Botschaft dieser Geschichte, sobald man die Frage nach der Verantwortung stellt. Die fällt hier leider ebenso unter die titelgebenden Dinge, über die geschwiegen wird. Genau das sollte in einem Jugendbuch auf keinen Fall passieren.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Lea Dittrich: Die Dinge, über die wir schweigen
Grevenbroich: Südpol Verlag 2018
205 Seiten, 14,90 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
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