Jugendbuch | Erna Sassen: Keine Form, in die ich passe
Lustlos, dünnhäutig, einsiedlerisch, niedergeschlagen, voller Ängste, Tess steckt in einer Krise. Liegt das an der Pubertät oder verbirgt sich etwas anderes dahinter? Wie eine Detektivin muss Tess Fragen stellen, Spuren folgen und Beweise finden, um zu entschlüsseln, was los ist mit ihr. Das eigene Gefühlsleben – ein Krimi in Echtzeit. Von MAGALI HEIẞLER
Tess war immer eine gute Schülerin. Jetzt, mit siebzehn, ist das Ziel klar: ein ausgezeichnetes Abitur, danach das Medizinstudium. Jedenfalls ist den anderen das Ziel klar. Tess weniger, in schwindendem Maß. Sie fühlt sich müde, so sehr, dass sie morgens nicht mehr aus dem Bett findet. Sie will nicht mehr in die Schule gehen. Stress, keine Frage, sagen die anderen. Tess bekommt Schonzeit. Das nützt nichts, sie fühlt sich immer elender.
Zufällig lernt sie Evelien kennen. Evelien ist Sannes Mutter, ein Mädchen, das so alt ist wie Tess, würde es noch leben. Aber Sanne ist vor kurzem gestorben. Tess hat Sanne nie kennengelernt, zu Evelien geht sie trotzdem immer wieder.
Abgesehen von Evelien gibt es noch etwas, das Tess im Kopf herumspukt. Sie schreibt Liedtexte. Tess will das nicht mehr, vor allem soll niemand die Lieder hören. Die Lieder sind hartnäckig, sie wollen geschrieben werden und gesungen. Tess singt sie leise. Gelegentlich taucht P auf in den Texten. P ist exakt das, woran Tess nicht denken möchte. Darüber nachdenken schon gar nicht. Doch das interessiert die Lieder nicht. Sie wollen laut sein.
Selbstvertrauen lernen aus Fehlern
Sassen hat einen Monolog in fünf Akten geschrieben. Tess spricht ihn, ihre Lieder gibt es dazu. Sassen ist es gelungen, ihrer Protagonistin einen ganz eigenen Tonfall zu schenken. Genauso besonders sind die Liedtexte, und zwar für einmal nicht auf Englisch. Bravo! Eine Autorin, die den Mut hat, der eigenen Sprache zu vertrauen. Sowie das enorme Glück, in Rolf Erdorf einen Übersetzer gefunden zu haben, der sowohl Tess wie ihre Lieder so wiederzugeben versteht, dass man dem Mädel auch im Deutschen jedes Wort abnimmt.
Tess kann sich sehr genau ausdrücken, sie kennt ihre Gefühle bis ins letzte Detail. Zugleich ist sie sich über deren Bedeutung im Unklaren. Sie hat wenig Selbstvertrauen und ist verunsichert, wenn es um Gefühle geht. Sassen gelingt die Kunst, die Leserin in Tess’ Kopf zu setzen und sie dort die Gedankenmühle beobachten zu lassen, die Tess unermüdlich aufs Neue in Gang setzt. Die Leserin weiß dabei kaum mehr als die Heldin. Es ist auf Dauer eher der Blick von oben, der es ermöglicht, hin und wieder Fakten etwas schneller zu addieren. Aber Tess hat eben keinerlei Distanz zum Geschehen. Das mitzuerleben ist nicht immer angenehm beim Lesen. Die Identifikation mit Tess ist nach wenigen Sätzen schon stark und sie wächst im Lauf der Geschichte.
Informationen über weitere auftretende Personen wie auch über wichtige Geschehnisse vor Einsetzen der Handlung werden nur langsam, fast geizig zugefüttert. Hin und wieder mag etwas zu knapp geraten sein. Man muss wachsam bleiben beim Lesen, zumal dieses Verfahren nicht nur der übliche Kniff ist, die Spannung zu erhöhen.
Tatsächlich öffnet sich damit Raum für die großen Fragen. Tess’ Sinnsuche rührt an die Frage, was man aus einem Leben machen kann, nicht nur, wenn man jung ist. Sassen scheut sich nicht, diesen Gedanken mit der Endlichkeit eines Menschenlebens zu verknüpfen. Tess darf z.B. offen darüber nachdenken, ob Sanne als Tote es nicht leichter hat, weil sie so viel Schmerzliches nicht mehr durchleiden muss. Denktabus gibt es nicht.
Glatte Antworten gibt es auch nicht. Ehrlichkeit ist wichtiger. Zuzugeben, dass man etwas nicht weiß, etwas nicht kann. Dass man sich dumm verhalten hat. Dass man eifersüchtig ist und töricht, egoistisch, auch aus den besten Motiven. Wichtig ist vor allem, das sich selbst gegenüber zuzugeben. Nicht dass Tess dankbar ist für die Lektionen, im Gegenteil. ‚Mir erzählt keiner was‘ schreit sie einmal (in Blockbuchstaben!). Wenn es jedoch jemand tut, will sie es lieber nicht hören. Teenager, ist man versucht zu seufzen. Genau die Vorstellung aber reißt Sassen in kleine Fetzen. Die Lehre, dass man selbst entdecken muss, wie das Leben funktioniert, gilt für jedes Lebensalter und leider nicht nur einmal. Das gilt auch für die letztendliche Einsicht, wie sehr man gegen sich selbst verstößt, wenn man nur den Erwartungen anderer folgt. Tess bezahlt mit Orientierungslosigkeit und nahezu Selbstaufgabe.
Neuartige Figurenkonstellation
Abgesehen von der Schöpfung einer Hauptfigur, wie man sie sich lebendiger und realistischer in ihren Irrtümern, dem Herzeleid und der Liebesfähigkeit in einem Roman nicht wünschen kann, hat Sassen mit der Konstellation und Interaktion ihrer Figuren Neuland betreten. Ihrer Teenager-Hauptfigur eine Erwachsene an die Seite zu stellen, die nicht mütterlich, nicht freundschaftlich, nicht pädagogisch noch eine Weise ist, ist etwas sehr Spezielles und Seltenes. Die Mühe, die dahintersteckt, so etwas zu konstruieren und auch noch scheinbar anstrengungslos zu erzählen, ist kaum hoch genug anzusetzen.
Aber selbstverständlich gehört so etwas Außergewöhnliches zum Kern dieses Romans. Schließlich geht es darum, einen eigenen Weg zu finden, Regeln, die wirklich zu einer gehören, und nicht denen zu folgen, die andere aufgestellt haben. Tess braucht keine zweite Mutter, keine Lehrerin und auch keine Magierin. Was sie braucht, ist ein Blick auf die Welt von Erwachsenen, die mutig genug sind, ihre Gefühle offen zu leben. Die der Nabelschau und der oft aus Unerfahrenheit gepaart mit Unsicherheit krassen Direktheit von Heranwachsenden ihrerseits einfach mit Ehrlichkeit begegnen. Über die Beziehung zwischen Tess und Evelien kann man lange sprechen.
Das gilt auch für die vertrackte Beziehung von Tess zu dem lange mysteriösen P. Sassen löst das Rätsel auf ihre unnachahmliche Art. Angreifbar ist die Lösung sicher, in vielerlei Hinsicht. Aber was geschieht und wie es geschieht, ist Tess’ Angelegenheit und niemandes sonst.
Was für ein besonders, mutiges Buch!
Titelangaben
Erna Sassen: Keine Form, in die ich passe
(Er is geen vorm waarin ik pas, 2017)
Aus dem Niederländischen übersetzt von Rolf Erdorf
Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2018
220 Seiten, 18 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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