Gefühlskrimi

Jugendbuch | Erna Sassen: Keine Form, in die ich passe

Lustlos, dünnhäutig, einsiedlerisch, niedergeschlagen, voller Ängste, Tess steckt in einer Krise. Liegt das an der Pubertät oder verbirgt sich etwas anderes dahinter? Wie eine Detektivin muss Tess Fragen stellen, Spuren folgen und Beweise finden, um zu entschlüsseln, was los ist mit ihr. Das eigene Gefühlsleben – ein Krimi in Echtzeit. Von MAGALI HEIẞLER

Keine Form in die ich passe - 9783772528637 - 350Tess war immer eine gute Schülerin. Jetzt, mit siebzehn, ist das Ziel klar: ein ausgezeichnetes Abitur, danach das Medizinstudium. Jedenfalls ist den anderen das Ziel klar. Tess weniger, in schwindendem Maß. Sie fühlt sich müde, so sehr, dass sie morgens nicht mehr aus dem Bett findet. Sie will nicht mehr in die Schule gehen. Stress, keine Frage, sagen die anderen. Tess bekommt Schonzeit. Das nützt nichts, sie fühlt sich immer elender.

Zufällig lernt sie Evelien kennen. Evelien ist Sannes Mutter, ein Mädchen, das so alt ist wie Tess, würde es noch leben. Aber Sanne ist vor kurzem gestorben. Tess hat Sanne nie kennengelernt, zu Evelien geht sie trotzdem immer wieder.
Abgesehen von Evelien gibt es noch etwas, das Tess im Kopf herumspukt. Sie schreibt Liedtexte. Tess will das nicht mehr, vor allem soll niemand die Lieder hören. Die Lieder sind hartnäckig, sie wollen geschrieben werden und gesungen. Tess singt sie leise. Gelegentlich taucht P auf in den Texten. P ist exakt das, woran Tess nicht denken möchte. Darüber nachdenken schon gar nicht. Doch das interessiert die Lieder nicht. Sie wollen laut sein.

Selbstvertrauen lernen aus Fehlern

Sassen hat einen Monolog in fünf Akten geschrieben. Tess spricht ihn, ihre Lieder gibt es dazu. Sassen ist es gelungen, ihrer Protagonistin einen ganz eigenen Tonfall zu schenken. Genauso besonders sind die Liedtexte, und zwar für einmal nicht auf Englisch. Bravo! Eine Autorin, die den Mut hat, der eigenen Sprache zu vertrauen. Sowie das enorme Glück, in Rolf Erdorf einen Übersetzer gefunden zu haben, der sowohl Tess wie ihre Lieder so wiederzugeben versteht, dass man dem Mädel auch im Deutschen jedes Wort abnimmt.

Tess kann sich sehr genau ausdrücken, sie kennt ihre Gefühle bis ins letzte Detail. Zugleich ist sie sich über deren Bedeutung im Unklaren. Sie hat wenig Selbstvertrauen und ist verunsichert, wenn es um Gefühle geht. Sassen gelingt die Kunst, die Leserin in Tess’ Kopf zu setzen und sie dort die Gedankenmühle beobachten zu lassen, die Tess unermüdlich aufs Neue in Gang setzt. Die Leserin weiß dabei kaum mehr als die Heldin. Es ist auf Dauer eher der Blick von oben, der es ermöglicht, hin und wieder Fakten etwas schneller zu addieren. Aber Tess hat eben keinerlei Distanz zum Geschehen. Das mitzuerleben ist nicht immer angenehm beim Lesen. Die Identifikation mit Tess ist nach wenigen Sätzen schon stark und sie wächst im Lauf der Geschichte.

Informationen über weitere auftretende Personen wie auch über wichtige Geschehnisse vor Einsetzen der Handlung werden nur langsam, fast geizig zugefüttert. Hin und wieder mag etwas zu knapp geraten sein. Man muss wachsam bleiben beim Lesen, zumal dieses Verfahren nicht nur der übliche Kniff ist, die Spannung zu erhöhen.

Tatsächlich öffnet sich damit Raum für die großen Fragen. Tess’ Sinnsuche rührt an die Frage, was man aus einem Leben machen kann, nicht nur, wenn man jung ist. Sassen scheut sich nicht, diesen Gedanken mit der Endlichkeit eines Menschenlebens zu verknüpfen. Tess darf z.B. offen darüber nachdenken, ob Sanne als Tote es nicht leichter hat, weil sie so viel Schmerzliches nicht mehr durchleiden muss. Denktabus gibt es nicht.
Glatte Antworten gibt es auch nicht. Ehrlichkeit ist wichtiger. Zuzugeben, dass man etwas nicht weiß, etwas nicht kann. Dass man sich dumm verhalten hat. Dass man eifersüchtig ist und töricht, egoistisch, auch aus den besten Motiven. Wichtig ist vor allem, das sich selbst gegenüber zuzugeben. Nicht dass Tess dankbar ist für die Lektionen, im Gegenteil. ‚Mir erzählt keiner was‘ schreit sie einmal (in Blockbuchstaben!). Wenn es jedoch jemand tut, will sie es lieber nicht hören. Teenager, ist man versucht zu seufzen. Genau die Vorstellung aber reißt Sassen in kleine Fetzen. Die Lehre, dass man selbst entdecken muss, wie das Leben funktioniert, gilt für jedes Lebensalter und leider nicht nur einmal. Das gilt auch für die letztendliche Einsicht, wie sehr man gegen sich selbst verstößt, wenn man nur den Erwartungen anderer folgt. Tess bezahlt mit Orientierungslosigkeit und nahezu Selbstaufgabe.

Neuartige Figurenkonstellation

Abgesehen von der Schöpfung einer Hauptfigur, wie man sie sich lebendiger und realistischer in ihren Irrtümern, dem Herzeleid und der Liebesfähigkeit in einem Roman nicht wünschen kann, hat Sassen mit der Konstellation und Interaktion ihrer Figuren Neuland betreten. Ihrer Teenager-Hauptfigur eine Erwachsene an die Seite zu stellen, die nicht mütterlich, nicht freundschaftlich, nicht pädagogisch noch eine Weise ist, ist etwas sehr Spezielles und Seltenes. Die Mühe, die dahintersteckt, so etwas zu konstruieren und auch noch scheinbar anstrengungslos zu erzählen, ist kaum hoch genug anzusetzen.

Aber selbstverständlich gehört so etwas Außergewöhnliches zum Kern dieses Romans. Schließlich geht es darum, einen eigenen Weg zu finden, Regeln, die wirklich zu einer gehören, und nicht denen zu folgen, die andere aufgestellt haben. Tess braucht keine zweite Mutter, keine Lehrerin und auch keine Magierin. Was sie braucht, ist ein Blick auf die Welt von Erwachsenen, die mutig genug sind, ihre Gefühle offen zu leben. Die der Nabelschau und der oft aus Unerfahrenheit gepaart mit Unsicherheit krassen Direktheit von Heranwachsenden ihrerseits einfach mit Ehrlichkeit begegnen. Über die Beziehung zwischen Tess und Evelien kann man lange sprechen.

Das gilt auch für die vertrackte Beziehung von Tess zu dem lange mysteriösen P. Sassen löst das Rätsel auf ihre unnachahmliche Art. Angreifbar ist die Lösung sicher, in vielerlei Hinsicht. Aber was geschieht und wie es geschieht, ist Tess’ Angelegenheit und niemandes sonst.
Was für ein besonders, mutiges Buch!

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Erna Sassen: Keine Form, in die ich passe
(Er is geen vorm waarin ik pas, 2017)
Aus dem Niederländischen übersetzt von Rolf Erdorf
Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2018
220 Seiten, 18 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zwischen Gretel Adorno und Doktor Faustus

Nächster Artikel

Urlaub mal anders

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Die Träume der Erwachsenen

Jugendbuch | Elisabeth Schmied: Der Penner im Pyjama ist mein Papa »Wir wissen, was für dich gut ist.«, »Du sollst es einmal besser haben.«, »Das wirst du verstehen, wenn du älter bist.«, sind Sätze, die Heranwachsende nur zu gut kennen. Eltern richten ihnen das Leben ein, damit alles in geordneten Bahnen läuft. Ein elterlicher Traum wird Wirklichkeit. Doch was geschieht, wenn ein Elternteil plötzlich einen anderen Traum verwirklichen will und die geordneten Bahnen verlässt? Elisabeth Schmied, junge Autorin aus Österreich, jagt in »Der Penner im Pyjama ist mein Papa« eine Musterfamilie in einen Albtraum, unter dem vor allem die beiden

Blinder Aktionismus – und die Folgen

Jugendbuch | Robin Stevenson: Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete Betrachtet man die Welt, kann einer schon angst und bange werden. Boden, Meer, Wälder, Flüsse, Tiere und auch noch die Politik, alles scheint im Untergang begriffen. Dagegen muss etwas getan werden, jetzt und auf der Stelle! Die Folgen von blindem Aktionismus sind jedoch nie die, die man erwartet hat. Robin Stevenson zeigt schmerzhaft deutlich, wie und warum das so ist. Von MAGALI HEISSLER

Mogelpackung

Jugendbuch | Clare Furniss: Das Jahr, nachdem die Welt stehenblieb Der Tod der Mutter ist eine große thematische Herausforderung, zumal in einem Roman für Teenager. Es verlangt Auseinandersetzung mit Verlust, Trauer und deren Bewältigung, und zwar ehrliche Auseinandersetzung. Der Debütroman der englischen Autorin Clare Furniss ›Das Jahr, nachdem die Welt stehenblieb‹ will genau das sein, bliebt aber in der Schilderung viel zu sehr an der Oberfläche und wird so zur Mogelpackung in puncto Gefühlen – meint MAGALI HEISSLER

Erschreckend einfach – einfach erschreckend

Jugendbuch | Antonia Michaelis: Niemand liebt November Unter den deutschen Jugenbuchautorinnen nimmt sich Antonia Michaelis seit einigen Jahren schon am eingehendsten und kontinuierlich derer an, die das Fehlverhalten Erwachsener in voller Wucht trifft: der Kinder und der verstörten Jugendlichen, die aus diesen Kindern werden können. Auch in ihrem neuesten Jugendbuch ›Niemand liebt November‹ erzählt sie von etwas, das erschreckend einfach geschah und sich zu einer einfach schrecklichen Geschichte für ein junges Mädchen entwickelt hat. Von MAGALI HEISSLER

Schonungslos

Jugendbuch | Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben Krieg, Flüchtlinge, Asyl, Abschiebung, auch Kinder kennen diese Begriffe schon. Ob und wie man mit ihnen darüber spricht, wie es zu den Zuständen kommt, die diese Begriffe bedeuten, davon hört man weniger. Die norwegische Autorin Ingeborg Kringeland Hald hat sich für den direkten Weg entschieden, und erzählt in ihrem Debütroman für Kinder ›Vielleicht dürfen wir bleiben‹ schonungslos vom Grauen. Von MAGALI HEISSLER