Jugendbuch | Linda Sue Park: Der lange Weg zum Wasser
»Die Hoffnung stirbt zuletzt« ist ein Sätzchen, das man oft hört. Amüsiert, halb ironisch, ein bisschen seufzend, etwa, wenn man beim Bäcker hinter vier anderen Kundinnen anstehen muss, der Bus schreckliche sieben Minuten Verspätung hat oder man auf göttliches Eingreifen bei der Benotung des Biologie-Tests hofft, den man versiebt hat, weil man keine Lust zum Lernen hatte. Es gibt andere Länder, andere Lebenslagen, in denen Hoffnung alles andere ist als ein inflationäres Gut. Linda Sue Park erzählt eine entsetzliche Geschichte, in der Hoffnung rar ist. Von MAGALI HEISSLER
Nya, ein Mädchen im Südsudan, macht sich auf, das zu tun, was ihre tägliche Aufgabe ist, Wasser holen. Sie braucht viele Stunden für den Weg. Sie kann auch nur hoffen, dass sie genügend Wasser findet, um ihren Kanister zu füllen. Schlammig wird es auf jeden Fall sein. Besseres Wasser gibt es nur in der Regenzeit, aber bis dahin dauert es noch Monate. Gesund ist das schlammige Wasser nicht, doch es gibt nichts anderes. Außerdem macht Wasserholen durchaus Spaß, am Tümpel trifft man andere Mädchen und Frauen, es gibt immer etwas Neues und so manches Lustige. Trotzdem träumt Nya hin und wieder davon, ihren Vormittag anders zu verbringen. In die Schule gehen wäre nicht schlecht. Aber es gibt keine Schule und für Mädchen sowieso nicht.
Der elfjährige Salva besucht eine Schule. Das war lange Jahre, bevor Nya geboren wurde. Salva lebt im Südsudan Mitte der 1980er Jahre. Es herrscht Krieg, wenn auch seine Gegend bislang verschont wurde. Das war ein kurzeitiges Glück. Der Krieg bricht sehr plötzlich herein, Salva bleibt nur die Flucht in den Busch. Allein, ohne zu wissen, was aus seiner Familie, aus dem Heimatdorf geworden ist, muss er sich durchschlagen. Das ist schwer, Flüchtlingsgruppen können keine Kinder brauchen, sie sind unnütze Esser. Dann hat Salva ein wenig Glück, er findet einen Freund und kurz darauf seinen Onkel. Aber die Umstände zerschlagen jede Hoffnung, Löwen, Soldaten, Hunger, Durst vernichten, was eben gekeimt hat. Trotzdem geht Salva weiter, bis er nach vielen Hundert Kilometern in einem Flüchtlingslager landet. Es ist nur das erste.
Volle Wucht
Park erzählt zwei Geschichten parallel, Nyas aus dem Jahr 2008, Salvas ab 1985. Was die beiden Geschichten verbindet, ergibt sich erst gegen Schluss. Der Erzählton ändert sich je nach der Geschichte. Die eine erzählt vom mühsamen Alltag, hart, aber mit Lichtblicken. Die andere ist der Bericht einer Flucht. Was Salva erlebt, ist grausam. Park beschreibt es mit einfachen Worten, die aber volle Wucht entwickeln. Die Leserin treffen die längst vergangenen Erlebnisse direkt. Man durchlebt sie mit Salva. Seine Ängste werden die Ängste der Leserin, seine Orientierungslosigkeit die ihre. Man spürt seinen Hunger, die wachsende Verzweiflung und die nagende Furcht um seine Familie wie um die Frage, was werden wird. Es ist eine Geschichte aus einem Krieg, der tatsächlich stattgefunden hat. Eine Geschichte ohne Heldinnen und Helden, an deren Seite der Sieg sicher ist. Stattdessen hört man von Toten, von Leid, das offenbar kein Ende findet. Die Lektüre macht sprachlos. Trotzdem ist man froh, dass Park Worte dafür gefunden hat. Erfunden hat sie sie nicht, denn die Geschichte ist wirklich passiert.
Wasser ist Leben
Wasser ist das verbindende Motiv. Lebensspendend. Es ist das Wasser, durch das Salvas und Nyas Geschichte zusammengeflochten werden. Park erzählt nicht nur etwas nach, das geschehen ist, sie gestaltet auch – und zwar sehr versiert. Ihre erzählerische Geschicklichkeit macht aus dem ganzen Schrecken etwas Besonderes, etwas, das auch nach der Lektüre lange im Gedächtnis bleibt. Ehrlichkeit verhindert, dass romangerecht geschönt wird, auch wenn Park eine bewusste Auswahl trifft aus den schrecklichen Ereignissen in Salvas Leben. Sie weiß, was sie dem Publikum zumuten kann und sie ist nicht zimperlich.
Salva hatte Glück und er hatte zudem das Glück, dass es möglich wurde, aus seinen persönlichen Vorteilen etwas für andere tun zu können.
Ein Nachwort informiert sehr knapp über den Krieg im Südsudan, ein anderes über Salva und seine Brunnenbauprojekte. So kurz das alles gefasst ist, ist es doch zunächst erschöpfend. Politische Konflikte, ethnisch-kulturelle Probleme werden angerissen. Wer mehr wissen will, muss selbst nach Auskünften suchen. Es wird nicht schwerfallen, der ferne Südsudan ist nach der Lektüre dieses Buchs plötzlich ganz nah. Salvas Geschichte macht nicht nur betroffen, sie macht auch zornig. Es ist ein Buch, das man lesen sollte, ehe man Begriffe wie »Abschiebung« leichtfertig äußert, gerade zur Zeit.
Ein Jahr, nachdem die Leserin Nya auf ihrem Weg zum Wasserloch begleitet hat, endet das Buch mit viel Hoffnung. Nicht nur wegen des Wassers, sondern auch mit dem Blick auf mögliche Versöhnung und der Überwindung alter Gegensätze. Auf ein Leben in Frieden. Dass das über zwanzig Jahre gedauert hat, sollte man aber nicht vergessen. Hoffnung ist etwas für die sehr lange Bank.
Titelangaben
Linda Sue Park: Der lange Weg zum Wasser. Eine wahre Geschichte
(A Long Walk to Water, 2010) Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von André Mumot
München: bloomoon 2016
120 Seiten. 9,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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