Jugendbuch | Matthew Quick: Schildkrötenwege
Werther und Anne in Avonlea, Trotzkopf und Jim Hawkins, Holden Caulfield, Försters Pucki und Bella Swan, den Heldinnen aus Jugendbüchern wird nachgesagt, dass sie durchschlagenden Einfluss nehmen auf die Psyche ihres Publikums. Matthew Quick hat sich dieser Frage angenommen. Von MAGALI HEIẞLER
Nanette ist siebzehn und weder was ihre Familie, noch was die Schule oder ihr Aussehen angeht, dürfte sie Probleme haben. Hat sie aber. Das beunruhigt sie. Wie kann sie nicht zufrieden sein als weißes gut situiertes Mädchen, hübsch, intelligent und so sportlich, dass sie College-Stipendien angeboten bekommt? Für Nanette fühlt sich alles falsch an. Sie hat den Eindruck, dass sie eine Rolle spielt, die ihr andere zugesprochen haben. Als ungefestigter Teenager sucht sie die Schuld bei sich.
Ein Weg im Gefühlsdschungel scheint sich abzuzeichnen, als ein Lehrer ihr einen alten Roman schenkt über einen Jugendlichen, der seine eigenen Schwierigkeiten mit der Welt hat. Die Handlung des Romans führt Nanette nicht nur zu inneren Erkenntnissen, sondern bringt ihr auch neue und aufregende Bekanntschaften. Zum Beispiel den Autor des alten Buchs, aber auch einen Gleichaltrigen, in den sie sich verliebt. Die Sache ist klar, die beiden wollen ihr Leben ändern.
Alex allerdings wählt einen radikalen Weg, der Nanette nur hilfloser zurücklässt. Wer kann sie jetzt noch retten?
Das kategorische Sowohl als auch
Quick schreibt sehr flüssig und auf den ersten Blick wirken Handlung, Beschreibungen und Figurenzeichnung überzeugend, so sehr, dass man ausgesprochen gern weiterliest. Nanette ist eine neue Stimme im Chor der Gestalten, die in Romanen an der fortgeschritteneren Pubertät laborieren; sie klingt frisch und beeindruckend ehrlich. Ihr Gefühlschaos ist verständlich, ihre Sinnsuche, ihre Orientierungslosigkeit, ihre Hilflosigkeit sind realistisch gezeichnet. Auch ihr weiteres Handeln ist recht schlüssig.
Die Figuren, die Quick ihr an die Seite stellt, sind sympathisch, aber nicht sehr lange interessant. Zu schnell verfällt der Autor auf Stereotypen. Der innerlich gequälte junge Mann, mit einer liebevollen und einer (auto)-aggressiven Seite, das gemobbte, altkluge Kind, die oberflächlichen Eltern, die überdrehten Freundinnen, alle treten sie nach und nach auf die Bühne. Der Kitsch ist komplett, als ein alter Schriftsteller auftaucht, der, an der Kunst leidend, großväterliche Weisheiten von sich gibt.
Nicht weniges dabei ist sehr dem US-amerikanischen Alltag verhaftet. Offenbar gibt es keine Möglichkeit zur Begegnung der Generationen, ohne dass umgehend ‚mögliche sexuelle Belästigung‘ gedacht wird, was zur Folge hat, dass unentwegt erklärt werden muss, wie rein und anständig die jeweiligen Motive der Figuren sind. Da liegt einiges im Argen, leider wird es nicht diskutiert.
Andererseits wird die zeitgenössische Alkohol- und Sexkultur der älteren Teenager eingehend kritisiert. Für einmal wagt ein Autor, das nicht lustig zu finden. Ehrlichkeit herrscht auch bei der Diskussion der Frage, inwieweit denn nun Romane Jugendliche tatsächlich beeinflussen. Die Fragen, die aufgeworfen werden, von der Verantwortung von Autorinnen, vom Umgang mit »der« Wahrheit im Roman oder den Erwartungen des Publikums hätten durchaus ausführlicher betrachtet werden können, bieten aber immerhin Stoff genug zum Nachdenken.
Dennoch werden auch dabei so reichlich Sentimentalitäten serviert, etwa, was die wahren Hintergründe des alten Romans angeht und ihre Auswirkung auf die wirken, dass ein junges Publikum viel zu sehr abgelenkt und auf Gefühligkeiten ausgerichtet wird. Abgesehen davon, dass im Kern nur die lästige Allerweltsbehauptung bestätigt wird, dass alles eben doch autobiografisch ist. So laviert Quicks ganzer Roman zwischen Neuem und Herkömmlichen und bleibt genau dadurch durchgängig auf den alten Geleisen.
Geschlechterfragen
Womit Quick deutlich Probleme hat, ist die Zeichnung weiblicher Figuren. Er ist sehr bemüht, aus Nanette eine moderne junge Frau zu machen. Sie ist eine talentierte Fußballspielerin, heißt es. Spielen sieht man sie nie. Was genau die Sportart für sie bedeutet, erfährt man nicht. Mit gleichaltrigen jungen Frauen hat sie ihre Probleme, da diese nichts als Mode, Make up und Männer im Kopf haben, obwohl sie gleichfalls Sportlerinnen sind. Ansonsten haben wir Mütter, reizende alte Damen und eine Psychologin, die Nanette nach dem Zusammenbruch wieder zusammenkitten soll. Nanettes Bemühungen, die klassische weibliche Rolle zu spielen, vermitteln den Eindruck, als sei sie gar keine Frau, so fremd ist das für sie. Dem Autor ist es nicht gelungen, eine junge Frau realistisch zu zeichnen.
Einsichten, Merksätze, Denkanstöße kommen von den männlichen Figuren. Alex schreibt selbstverständlich tiefgründige Gedichte, die Nanette gerührt lesen darf. Das ist ein bisschen wenig in einem zeitgenössischen Jugendroman. Auch die ausgezeichnete Übersetzung kann das nicht retten.
Ärgerlich wird es, wenn Nanettes psychisches Leid stets und ständig vergrößert wird dadurch, dass die wichtigsten Männerfiguren »tun, was ein Mann eben tun muss«, nämlich ihren Weg gehen und die Frau im Regen stehen lassen. Nanette schlägt sich durch, gut. Man kann nur hoffen, dass sie daraus lernt.
Die guten Ansätze zur Gesellschaftskritik werden schließlich ebenso verwässert wie der denkerische Hintergrund. Es gibt am Ende ein Kompromisschen und Nanette bekommt ein neues altes Buch geschenkt. Wilde, Dorian Gray. Sie findet auch gleich das passende Zitat: Jeder großartigen Sache liegt etwas Tragisches zugrunde.
Mag vorkommen. Hier liegt eher der Fall »Vom Erhabenem zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt« vor.
Titelangaben
Matthew Quick: Schildkrötenwege oder wie ich beschloss, alles anders zu machen
(Every Exquisite Thing, 2016). Aus dem amerikanischen Englisch von Knut Krüger
München: dtv 2018
298 Seiten, 16,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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