Lite Ratur | Wolf Senff: Krähe
Schwierig, Krähe, schwierig. Nein, niemand weiß, wie einer da jemals rauskommt. Verstehst du, das ist, als wollte ein Planet aus seiner Bahn ausbrechen, wie stellen wir uns das vor. De facto ist das unmöglich, Krähe.
Sehnsucht. Kennst du das? Vielleicht wenn du das Nest ausbessern musst, und kommst nicht zurande, du findest keinen Zweig, der passen würde. Du merkst, dass die Dämmerung einbrechen will, und tätest nichts lieber, als nach Hause zu fliegen, aber der passende Zweig muss gefunden werden, und du sehnst dich bereits zurück nach dem warmen Nest.
Das ist Sehnsucht. Oder du bist lange unterwegs, und kommt es bei euch nie vor, dass ihr euch verirrt, in einen Stadtteil, dass ihr nicht wisst, wo ihr seid? Also du bist völlig perplex, Krähe, nein hier warst du noch nie. Und es dauert, dass ihr euch wieder orientieren könnt?
Die Dämmerung bricht an, höchste Zeit, du sehnst dich nach deinem Schlafbaum. Ist ja nichts als ein Beispiel, Krähe, sind allesamt harmlose Beispiele, und was immer geht: Du lebst allein und sehnst dich nach der Gefährtin, die du bereits im Blick hast, aber sie hat sich noch nicht entschieden, noch immer nicht, sie zögert. Das wäre Sehnsucht, Krähe.
Nein, weiß ich nicht, ob du das kennst. Kann ja sein. Aber der Mensch kennt das im Übermaß, Krähe, er ist ein sonderbares Geschöpf, Sehnsüchte werden beim Menschen massenhaft bedient, das ist ausgefuchst beim Menschen, bei ihm zieht das immer, man mag das nicht glauben, oft läuft es auf Betrug und auf Täuschung hinaus, sei froh, dass du damit nichts zu tun hast. Sehnsucht nach der Ferne, Krähe. Oh die Bilder von Bali, von Sansibar, vom türkisfarbenen Himmel über der Ägäis.
Beim Menschen kommen diverse Sehnsüchte vor. Klar, Liebe, und die zuallererst, die Sehnsucht nach dem Partner. Du glaubst mir nicht, wie diese Sehnsucht mit allen Mitteln hervorgekitzelt wird, gibt eine breit aufgestellte Industrie, die diese Sehnsucht profitabel bedient, Valentinstag ist da noch die laueste Nummer, sei froh, dass ihr kein Marketing kennt.
Mode gibt dieser Sehnsucht Nahrung, das Make-up-Gewerbe, Schönheitschirurgie, Pornofilm, Dating-Plattformen. Du siehst schon, Krähe, da wird eine einzige Melodie von den verschiedensten Produzenten intoniert, jeder schleicht sich auf seine Weise in deine Gedanken, da kennen sie nichts. Sie beuten die Sehnsüchte aus, wie sie den Planeten ausbeuten.
Zugetextet wirst du sowieso: Bettgeflüster über Brad Pitt, Ehestandsmeldungen über George Clooney, Pornostars beim Opernball, Fitnessnachrichten über Madonna, Geschwurbel über Lady Gaga, Justin Bieber – an erster Stelle immer die angloamerikanische Jugendkultur, ein betäubender Rausch, verstehst du, ein Fake, Celebrities, bei Lichte betrachtet ist’s seelisches Elend.
Bei nüchternem Verstand, Krähe, weiß jeder, dass all das Lug und Trug ist, Talmi, Glitzer, Lametta. Doch wer wäre gern bei nüchternem Verstand, der nüchterne Verstand steht im üblen Ruf, ein Langweiler zu sein, und die Industrie, die ein Konsumangebot für unsere Seele liefert, inszeniert eine schamlose Verführung, du wirst abgelenkt mit Traumschlössern, und die Schlösser, real und aus der Nähe betrachtet, sind hohl und brüchig, um was auch immer es geht dabei, sei’s der Millionengewinn, sei’s die Karriere.
Der Kopf wird dir zugemüllt mit Verheißungen, Krähe, verstehst du, und irgendwann, vielleicht dass du ermüdet bist, vielleicht dass die Wiederholungen langweilig werden – da ist es aber längst zu spät, da ist es vorbei, da wachst du auf, wachst endlich auf. Na, wahrscheinlich bloß ein Teil von dir. Der Rest hängt noch an den Träumen und wirft dir vor, versagt zu haben.
Du begreifst nicht, weshalb du dich so sehr konntest täuschen lassen, Krähe, und du gibst dir die Schuld, klar, nicht den perfekt kalkulierten Verführungsmustern, wissenschaftlich fundiert, an Versuchsobjekten getestet – auf was hast du dich eingelassen.
Dein Sturz ist abgrundtief, du hast keine Ahnung, wohin er dich führt, verstehst du. Du hast die Kontrolle komplett verloren, die du zwar nie hattest, doch du hast intensiv daran geglaubt, auch das ist nun vorbei, verloren, du taumelst.
Tja, Krähe, der Mensch hat zwar Namen dafür, Burn-out nennt er’s oder er nennt’s Depression, er ist ja geübt darin, Namen zu finden, die Sprache ist ein schönes Spielzeug, er findet das schick, doch erklären kann er’s nicht, das würde ihm ja den kläglichen Rest der Erinnerung an sein Traumschloss zerstören, er sehnt sich immer noch und redet sich die Vergangenheit schön.
Das ist der Kreis, Krähe, von dem ich eingangs sprach, so geht’s, jetzt verstehst du sie, die fest gefügte Bahn, die kein Entrinnen zulassen will. Sollte sie einstürzen, da würde einer ja von vorn beginnen müssen, ganz von vorn, wie sagen wir dazu, desillusioniert, das scheut der Mensch wie der Teufel das Weihwasser.
Ich nehme mal an, Krähe, all das rauscht an dir vorbei, komplett vorbei, du hast keine Verwendung für Apps, siehst weder Filme noch hörst du Musik, bist auch selbst kein großer Sänger, du spielst nicht Poker, du nimmst nicht an Schönheitswettbewerben oder Castings teil und hast nie bei DSDS vor der Glotze gesessen. Sehnsüchte? Gesetzt du wüsstest, wovon ich rede – ich wäre neugierig, ob du sie vermissen würdest. Nein, würdest du nicht.
| WOLF SENFF
| ABB: José Almeida Jr: Saudade (1899)