Freundschaft, Freundschaft, über alles?

Jugendbuch | Martin Gülich: Ich bin hier nur der Kumpel

Befreundet sein ist schön. Allerdings sollte Freundschaft ehrlich sein. Hintergedanken sollte es nicht geben, jedoch gewisse Grenzen dafür, wie weit man im Namen der Freundschaft geht. Wenn es Hintergedanken gibt und Grenzen fehlen, kann das Ganze für Publikum bedenklich werden. Wie Martin Gülichs neuer Jugendroman über Finn und die geheimnisvolle Carla. Von MAGALI HEISSLER

Martin Gülich Ich bin hier nur der KumpelFinn sieht das Leben locker, bloß keine Hektik für ihn. Altersbedingt, er ist sechzehn, hat er vor allem Mädchen und Sex im Kopf. Da lief auch schon etwas mit Lara aus seiner Klasse. Allerdings liegt das mehr an Lara als an ihm, meint Finn. Verliebt ist er nicht in sie. In eine andere auch nicht, wie käme er denn dazu. Bloß kein Stress, bloß keine Hektik.
Dann kommt Carla neu in die Klasse. Sie ist das seltsamste Mädchen, das Finn je getroffen hat. Redet kaum ein Wort, lässt sich mit niemandem ein. Als jemand aus der Parallelklasse sie anmacht, explodiert sie auf ungeahnte Weise.

Natürlich will Finn herausfinden, was es damit auf sich hat, und stößt auf einen verwickelten Familienstreit. Carla passt es überhaupt nicht, dass Finn sich in ihr Leben drängt. Dann geht ihr auf, dass sie das für sich ausnützen könnte. Sie schließen einen Pakt, es geht nur um Freundschaft. Finn muss das schlucken, auch wenn er das so nicht will. Aus dem Pakt wird eine große Lügengeschichte. Die jedoch ist nicht Finns einziges Problem. Seine Familiengeschichte ist nämlich gleichfalls verwickelt und seine Sprüche übers Lässigsein und keinen Stress verbergen nur, dass Finn genau das ist: emotional gewaltig im Stress.

Große Klappe und Muskeln spielen lassen

Finn redet gern und viel und sein Schöpfer Martin Gülich lässt ihm für seine Lieblingsbeschäftigung auch viel Raum. Das pubertäre Gequassel ohne Luft zu holen, macht es nicht leicht, beim Lesen konzentriert zu bleiben. Dabei ist genau das nötig, denn es sind nur wenige Sätze, die merken lassen, dass Finn ein recht verstörter Sechzehnjähriger ist, und dass ein Grund seiner Verstörung recht neuen Datums ist.

Finn hat eine traurige Familiengeschichte. Das hat ihn geprägt, auch wenn er sich bei seiner Tante, die ihn aufgezogen hat, sicher aufgehoben fühlt. Bei anderen Menschen blufft er lieber, als sich einzulassen, schmuggelt sich durch und macht lieber viele Worte, als ein, zwei klare zu sagen. Finn will niemandem wehtun, am wenigstens jedoch sich selbst. Das ist eine vielversprechend angelegte und weitgehend auch überzeugend ausgeführte Charakterisierung eines unsicheren Heranwachsenden. Überheblichkeit, Abwehr, gespielte Abgeklärtheit, in allem werden sich die jungen Leser schnell wiederfinden.

Gut zusammengestellt sind auch die Verwicklungen, in denen Finn steckt. Bedrohlich schlechte Schulnoten, ein falscher Freund, verkehrte Vorstellungen vom Erwachsensein, Angst vor der Welt da draußen, Unsicherheit gegenüber den angeschwärmten Mädchen und vor allem gegenüber der, in die er sich verliebt, alles da und gut getroffen. Aber es geht um mehr, Gülich tischt eine Menge auf, das Finn und mit ihm Leserinnen und besonders Leser schlucken müssen.

Gegenpositionen sehr gut, Moral mangelhaft

Ebenso wie Finn ist Carla eine eigenständige und originelle Schöpfung. Mit Jungen kann sie nichts anfangen. Die daraus resultierenden Probleme mit ihrer Umwelt und vor allem ihren Eltern gehen tief. Gülich schönt nicht. Das Ganze wird aus Finns Augen geschildert, hier kommen die ganz alltäglichen Urteile und Vorurteile über Mädchen, hetero und lesbisch, zur Sprache. Es gibt keine Predigten, keine Verklärung, die Erkenntnisse kommen langsam und ihre Umsetzung dauert noch länger. Realismus pur.

Die Lügengeschichte, die sich Carla und Finn nicht nur ausdenken, sondern umsetzen, passt zum Überschwang ihres Alters, ist aber letztlich nur romantisch. Tatsächlich weicht Gülich hier der nötigen Diskussion aus. Die Geschichte verbleibt im rein Unterhaltenden.

Carlas Eltern sind verbohrt, aber ein solcher Betrug, wie ihn die beiden Hauptfiguren durchführen, wird auf längere Sicht gesehen den Konflikt nur verschlimmern. Das Hohelied der Freundschaft, das hier gesungen wird, ist alles andere als hehr. Es ist im Gegenteil feige und zeigt nur Verantwortungslosigkeit und Selbstsucht, wie es eben kommen muss, wenn man auf rein individuelle Lösungen setzt. In einem Jugendbuch, das zunächst um ernste Probleme kreist, ist das zu wenig. Das, was Finn am meisten bedrückt, kommt dementsprechend auch nicht mehr laut zur Sprache. Es ist klein Platz mehr dafür in diesem rosaroten Liebestraum, den Carla auf ihrem und Finn auf seinem Weg neu träumt. Die nötige – und erzählerisch wichtige – Aussprache, die Finn mit seiner Tante braucht, wird auf ein unbestimmtes »Später« verschoben. Der junge Held, der der Freundschaft mit Carla zuliebe ein Lügengewebe aufrechterhält, ist also keineswegs tapfer, sondern immer noch ein Sprücheklopfer. Schade um diese gut angelegte Figur eines sechzehnjährigen Jungen in einem zunächst vielversprechenden kleinen Roman.

Solide Unterhaltung für Jungen, realistisch angelegt, aber mit Problemen auf eine Weise garniert, dass sie garantiert kein Magendrücken verursachen.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Martin Gülich: Ich bin hier nur der Kumpel
Stuttgart: Thienemann 2016
175 Seiten. 12,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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