Jugendbuch | Jennifer R. Hubbard: Atme nicht
Die Selbsttötung von Jugendlichen ist ein ebenso tabuisiertes wie brisantes Thema. Jugendliche fasziniert es allemal, vor allem aber ist es wichtig, es offen anzugehen. Tut man es, begibt man sich allerdings auf einen Weg, der Klippen und Fallgruppen in unangenehm hoher Zahl aufweist. Die US-amerikanische Autorin Jennifer R. Hubbard hat sich in ihrem Jugendbuch Atme nicht – ihrem ersten, das auf Deutsch erscheint – unerschrocken auf diesen Weg begeben und eine überraschend komplexe Geschichte vorgelegt. Von MAGALI HEISSLER
Ryan hat es getan. Die ganze Schule redet davon, in Worten, in Blicken und vor allem hinter Ryans Rücken. Ryans Mutter, die seither mit Argusaugen über ihn wacht, ebenso. Ryan weiß, wie er zumindest seine Mutter aus der Fassung bringen kann, indem er es ausspricht nämlich. Er hat versucht, sich umzubringen. Deswegen war er monatelang in einer psychiatrischen Klinik. Im Unterschied zu dem, was andere glauben, beschäftigt er sich aber nicht mehr mit den Möglichkeiten einer Selbsttötung, sondern mit der Frage, wie es damals dazu kam. Es gibt dabei zwei wunde Punkte, an die er sich selbst kaum wagt. Über das Thema Selbsttötung kann er, abgesehen von seiner Therapeutin, nur mit Val und Jake sprechen, die er in der Klinik kennengelernt hat. Aber sie leben viele Meilen von ihm entfernt, sie können nur digital kommunizieren.
Als Nicki auftaucht, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ist Ryan vor allem misstrauisch. Nickis Verhalten lässt das Misstrauen nur wachsen, es gibt keinen Zweifel, dass sie ihm absichtlich nachläuft. Nicki aber hat ein ganz besonderes Problem und eine eigene Art, es dem unwilligen Ryan aufzuzwingen. Dieser sieht sich plötzlich mit Facetten des Lebens konfrontiert, die ihn vor ungeahnte seelische Herausforderungen stellen.
Das Leben tut weh
Hubbard lässt Ryan diese Geschichte erzählen. Dieser entpuppt sich als sensibler Beobachter, eher zurückhaltend als laut, aufmerksam, einer der denkt, ehe er handelt, dabei aber oft zu kompliziert denkt, weil es ihm an Überblick fehlt. Sein Gefühlsleben überwältigt ihn häufig, Ryan ist wenig selbstbewusst. Als seine Eltern in ein neues Haus ziehen, er eine andere Schule besuchen und neue Freunde finden muss, ist er überfordert. Sein innerer Rückzug schießt dann ebenso über das Ziel hinaus, statt einen Ruhepunkt zu finden, isoliert er sich. Als Depressionen einsetzen, ist er hilflos. Er fühlt nur den Schmerz, den das Erwachsenwerden auslöst. Was das Leben zu bieten hat, tut weh, offenbar unaufhörlich und ohne, dass man es ändern könnte.
In Nicki trifft Ryan jemand, die gleichfalls an Lebensschmerz leidet. Ihr Ziel ist aber ein anderes, als Ryan zunächst vermutet. Hubbard ist sehr mutig darin, seelisch tief verletzte Teenager auftreten und interagieren zu lassen. Was hinter den Traumata steckt, ist unerwartet, weit weg von dem, was sich als traurige Standards in Teenager-Lektüre eingeätzt hat, und zeigt endlich wieder auf die Komplexität der Erfahrungen, die sehr junge Menschen machen. Ihre Teenager-Figuren nutzt Hubbard zugleich als Beispiele für die unterschiedlichen Stadien in der Bewältigung der extremen Situation, die sie mit ihren versuchten Selbsttötungen erlebt haben. Ehrlich, wie diese Autorin ist, enthält sie den Leserinnen dabei wenig vor, die Konsequenz bei der Figurenzeichnung ist beispielhaft.
Gespenster bannen
Was Hubbard in dieser sehr gelungenen Geschichte vor allem zur Sprache bringt, ist, wie sehr sich die Vorstellung, die man sich von etwas macht, von dem unterscheidet, wie die Dinge sind. Was für den einen von lebenswichtiger Bedeutung ist, ist es für andere nicht, und kann es auch nicht sein, weil jede ihren eigenen Blick hat. Menschen verklären und malen schwarz, erfinden Märchen und sehen nur schroffe Kanten, oft genug von einem Augenblick zum nächsten. Wir erfinden unsere eigenen bösen Geister. Und wenn wir nicht aufpassen, werden wir diese Gespenster nie mehr bannen können, das eine der Lehren, die sich hier ziehen lässt.
Nicki ist eine solche Spezialistin für falsche Geister der Vergangenheit, aber auch sie ist, wie Val und Jake wiederum ein Teil dessen, was auch Ryan ausmacht. In ihren Ähnlichkeiten finden sich diese Jugendlichen und unterstützen sich gegenseitig, oft nur halb bewusst. Hubbard kennt Jugendliche sehr gut und schafft es, ihre Figuren so lebensecht zu gestalten, dass man meint, sie sprechen zu hören. Das gilt selbst für Nebenfiguren, die nur Kurzauftritte haben.
Ein wenig überrascht, dass ein großes Problem in Ryans Familie erst so spät erkannt wird. Andererseits gehört die Erkenntnis zu Ryans Rückkehr ins Leben, er findet aus der Selbstzentriertheit, die das Teenageralter auszeichnet zurück zu seinem Selbst, das sensibel und offen ist für andere. Das aber auch gelernt hat, dass man nicht nur mit Rückschlägen umgehen kann, sondern dass sie das Leben ebenso ausmachen, wie alles Gute, das einer begegnet. Atmen kann man lernen.
Einen gut formulierte (und sehr gut übersetzte), spannend konstruierte und dabei tief gehende Geschichte.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben
Jennifer R. Hubbard: Atme nicht (Try not to breathe, 2012)
Aus dem amerikan. Englisch übersetzt von Michael Koseler
Weinheim: Beltz & Gelberg 2012
256 Seiten. 13,95 Euro
Jugendbuch ab 13
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