Jugendbuch | Iris Stobbelaar: Die Verwunschenen
Angesichts all dessen, was heutzutage aufgefahren wird, um eine Geschichte zu erzählen, an Farben, Rasanz und Ton, vergisst man leicht, dass das am besten vor schlichtem Hintergrund wirkt. Iris Stobbelaar hat ihren ersten Fantasy-Roman auf Schlichtheit und Geradlinigkeit aufgebaut und so geradezu lässig Spannung pur entfesselt. Von MAGALI HEIẞLER
Jakob ist ein toller Fußballspieler. Etwas anderes möchte er auch gar nicht sein. Bloß gibt es da die lästige kleine Schwester. Ständig soll er auf sie aufpassen. Katie nervt! Als er wegen der Kleinen auf ein wichtiges Spiel verzichten muss, platzt Jakob der Kragen. Er wünscht Katie ins finsterste Loch.
Und es geschieht. Plötzlich ist die Kleine fort. Jakob kann es nicht fassen. Vor allem kann er nicht fassen, dass er im tiefsten Herzensgrund Katie zurückhaben möchte. Genau so unvermutet, wie seine Schwester verschwunden ist, bekommt er die Chance, sie wiederzufinden. Jakob macht sich auf den Weg in ein fremdes und unheimliches Land. Es wird immer wichtiger, Katie wiederzufinden. Aber das genügt nicht, stellt sich heraus. Noch wichtiger ist es, den Fluch zu lösen. Nur was genau hat Jakob seiner Schwester an den Hals gewünscht?
Eine einfache Geschichte
Wer hier auf eine besondere Handlung, fein gezeichnete Figuren und funkelnde Sprache wartet, wartet auf das Falsche. Darum geht es der Autorin nicht. Sie setzt auf Bewährtes. Ein Konflikt zwischen zwei Kindern, ein Fantasy-Reich voller Gefahren, echte und falsche Unterstützerinnen, Lagerfeuer, bedrohliche Landschaften, Gasthaus und Palast, Held, Zauberin, Zwerg und Mörder, geheimnisvolle Landkarten spielen mit und, ganz klar, der Griff nach der Weltherrschaft. Alle Auftretenden habe ihre Probleme oder zumindest ein bisschen eigene Vergangenheit.
Die Sprache ist ebenso schlicht wie die Beschreibungen, Skizzen, Umrisse, Farbtupfer herrschen vor. Es gibt keine Zweideutigkeiten, keine Andeutungen, keine Verwirrung. Und damit wirklich niemand beim Lesen auf die falsche Spur gerät, setzt Stobbelaar sogar das wunderhübsch verstaubte »Had I but known«, in diesem Fall »Hätte Jakob das gesehen …« ein.
Jakobs innere Wandlung wird deswegen auch in klaren Worten beschrieben, ebenso werden Rätsel ziemlich schnell gelöst. Überraschungen in der Handlung gibt es nicht, abgesehen von denen, dem üblichen Ablauf »höchste Not-Rettung bis zur nächsten Ecke-neue höchste Not« geschuldet sind. Tatsächlich ist das Ganze in eindeutig definierten Stufen aufgebaut, beim Lesen steigt man zusammen mit Jakob wie auf einer Treppe zur endlichen Einsicht empor.
Die Basiselemente der Fantasy-Geschichte allerdings sind faszinierend und in ihrer Bedeutung auf den Inhalt eines Buchs für recht junge Leserinnen und Leser reduziert, tatsächlich verschenkt. Die Vorstellung, was aus denen wird, die man dorthin wünscht, wo der Pfeffer wächst, gekoppelt mit dem Gedanken, dass man eine einzige Chance bekommt, sie zurückzuholen, allerdings ohne die Garantier, dass das auch gelingt, öffnet ein psychisch-philosophisches Schreckensszenarium, das man sich gar nicht wild genau ausmalen kann.
Immerhin wird in ›Die Verwunschenen‹ – mit der anderen Form des Worts verwünscht, ›Die Verwünschten‹ wäre man dem Inhalt weit näher gekommen – die Frage angerissen, was es auf Dauer bedeuten kann, wenn man jemanden verflucht hat. Es kommt gleichfalls zur Sprache, wie es sich anfühlt, verflucht zu werden. Von daher wird das Buch auch etwas ältere Jugendliche interessieren können.
Einen Baustein der Geschichte bilden alltägliche Familienverhältnisse, die Beziehungen zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern sowie zwischen Eheleuten. Kinder werden das gut wiedererkennen. Auch die Fragen nach den Unterschieden zwischen persönlicher Freiheit, Egoismus, Eigensinn und Sozialverhalten werden aufgeworfen. Allerdings muss man das Buch mindestens ein zweites Mal lesen, um das recht zu verstehen und die Fingerzeige auf mögliche Antworten zu erkennen. Ein großes Plus ist im Übrigen, dass an keiner Stelle moralisiert wird. Die Gelegenheiten sind zahlreich wie die Sumpflöcher in dem geheimnisvollen Land, Stobbelaar kommt ihnen beim Erzählen auch nicht ansatzweise in die Nähe. Bravo!
Albträume garantiert
Abgesehen davon, dass die Handlung klassisch aufgebaut ist und man in kürzester Zeit der dazugehörenden Spannung verfällt, weil man die Lösung der Rätsel hören möchte, gibt es noch den wahren Grund, warum diese Geschichte unwiderstehlich ist. Das sind die Monster.
Das Land, in dem die fluchbeladenen Verwünschten landen, hat an sich schon einige aufzuweisen. Sie genügten, um Gänsehaut zu erzeugen und nicht nur bei Kindern. Bewohnerinnen von Sumpflöchern, lebende Erde, tödliche Irrgärten, eine Art Geisterschiff und verlassene Ortschaften erweisen sich jedoch bald als nahezu trivial. Stobbelaars Einfall, mit dem sie Jakobs Fluch und das Schicksal der kleinen Schwester verknüpft, ist rundum haarsträubend. Ebenso wird er beschrieben und ausgearbeitet. Grusel pur.
Die Autorin arbeitet mit wenigen, fundamentalen Ängsten. Mit dem, was im Dunkeln haust, was viele Beine, Klauen, Tentakel hat, mit spitzen Zähnen in Mäulern, die an den überraschendsten Körperstellen auftauchen. Tod und Verderben bringen sie allesamt, sie grabschen, haschen, packen ihre Opfer, ziehen sie unter Wasser, in den Sumpf, vor allem aber in ihre gierigen Mäuler. Sie schnüffeln, schlürfen, hecheln, spucken Schleim und saugen sich fest. Wer leicht erschrickt, muss es sich gründlich überlegen, zu dieser Geschichte zu greifen. Albträume können leicht die Folge sein. Wer es dagegen liebt, in Angst und Schrecken versetzt zu werden, ist hier an der richtigen Adresse.
Natürlich geht es auch um Heldenhaftes. Das muss nicht immer nur darin liegen, Monster zu erlegen. Ein Held ist auch, wer einsieht, dass er etwas Schlimmes angestellt hat und sich bemüht, es wiedergutzumachen. Ehrlich und aus vollen Herzen. Nur so kann man Flüche lösen.
Schön ausgedachter, spannender Unterhaltungsroman besonders für Jungen, mit einem Löffelchen denkerischen Mehrwert, vor allem aber mit wunderbar schrecklichen Ungeheuern in einem neuartigen Fantasyland. Ein schweres Manko ist anzuführen: Es gibt keine Landkarte. Nirgends. Der Horror!
Titelangaben
Iris Stobbelaar: Die Verwunschenen
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Weinheim: Beltz & Gelberg 2018
475 Seiten, 17,95 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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