Letzte Wahlverwandtschaften

Roman | Peter Härtling: Der Gedankenspieler

Weise, feinsinnig und versöhnlich begegnet uns Peter Härtlings letzter Roman, der dennoch das Wissen um die letzten Dinge preisgibt, der schonungslos den langsamen Abschied benennt. Denn sein Johannes Wenger – Protagonist, Gedankenspieler und Alter Ego – erträgt nur mit spöttischer Ironie und Eigensinn die Malaisen des Alters. Einen Zustand, »der einer Existenz zwischen Grube und Gipfel gleicht, zwischen nicht mehr hier und kaum noch dort.« Von INGEBORG JAISER

Härtling - Gedankenspieler-195107643Er hat jugendlichen Gefühlen einen Ausdruck gegeben (Ben liebt Anna, 1979), prägnante Künstlerbiographien nachempfunden (Hölderlin, 1976 oder Schubert, 1992) und ganz zuletzt das langsame, allmähliche Verschwinden aufgespürt. Nun ist posthum Peter Härtlings letzter Roman erschienen, in dem sich das ganze Wissen um die Zumutungen des Alters und der körperlichen Einschränkungen widerspiegelt.

Eine ruckartige Bewegung, ein ungeschickter Ausrutscher ist es nur, der den 83jährigen Johannes Wenger vom geistig und körperlich aktiven Spaziergänger in den Status eines hinfälligen Pflegebedürftigen katapultiert. Schlagartig wird er zum Gefangenen seiner selbst und ist angewiesen auf eine Armada von »Rollatoren, Rollstühlen, Badewannenliften, Sauerstoffgeräten, Masken, ein Bett mit Galgen, Damen aus der Pflegestation«.

Ein Gefangener seiner selbst

Keine einfache Veränderung für den kauzigen Eigenbrötler Wenger, der als Baumeister, Architekt und Journalist ein ganzes Leben lang alleine gelebt und gewirtschaftet hat, »als notorischer Einzelgänger, Einsamkeitsverkoster, einer, der Häuser gebaut hat und unbehaust blieb.« Nun ist sein Leben durchgetaktet vom Besuch des Pflegepersonals und dem Essen auf Rädern. Welch Glück, dass es den um Jahrzehnte jüngeren Dr. Mailänder gibt, der seit Längerem eine persönliche Freundschaft pflegt, inklusive ärztlicher Unterstützung – ein hilfreicher Umstand, den wohl nur wenige ältere Herrschaften im realen Leben genießen dürfen.

Widerspenstig, mit zwiespältigen Gefühlen und doch nur schwer zu verbergendem heimlichen Genuss lässt sich Wenger auf die Nähe zu Mailänder und zu dessen junger Familie ein, verbringt mit ihnen sogar gemeinsame Osterferien. Doch der langsame Abstieg ist nicht mehr aufzuhalten. »Zwei Infarkte, zwei Stents, ein Schlaganfall, Diabetes« liegen bereits auf der Waagschale – auch wenn sich Wenger grimmig, sarkastisch, eigensinnig gegen das Schicksal stemmt. Wenn er nicht gerade vor Erschöpfung einschläft, mitten in einem Gespräch oder einer Verrichtung.

»Übel ist es auszuscheiden, aus der Schar der Lebendigen, ehe man stirbt.« Dieses weise Seneca-Wort steht dem fünften Kapitel dieses Romans voran. Peter Härtling wusste, wovon er schrieb. Als Meister der Einfühlungsgabe, des Hineindenkens stattete er seinen Johannes Wenger mit wohl allzu bekannten Empfindungen und Leiden aus. Auch Härtling hat in seinen letzten Lebensjahren Diabetes, Dialyse, Rollstuhl gekannt – und das Wissen, »dass vor dem letzten Atemzug eine dramatische Wegstrecke liegt«. Wie viel Härtling in Wenger, wieviel Baumeister wiederum im Schriftsteller steckt, gilt es für jeden Leser selbst auszuloten. Die Grenzen verschwimmen. Nicht umsonst wird Johannes Wenger ganz am Anfang des Romans eine feinnervige Empfindung zugespielt: »Sein Körper fühlte sich an wie von jemandem anderen gedacht.«

Schwefelgelbes Endspiel

Wundervoll sind die kleinen Eskapaden des geistig fliehenden Wengers, der in seiner körperlichen Immobilität gedankliche Briefe an die Heroen seines Lebens schreibt, an Friedrich Schinkel, Mies van der Rohe, Rolf Gutbrod – aber auch an die toughe Pflegeschwester Agneszka. Mit schwindenden Kräften gehen diese Gedankenreisen nahtlos über in düstere, schwefelgelbe Träume, vergiftet vom langsamen Nierenversagen, der Urämie, des »Sterben im Konjunktiv«. Doch fühlt man sich als Leser nicht in eine Vorhölle Danteschen Ausmaßes versetzt, spürt eher das sanfte Hinübergleiten, das schläfrige Abdriften, das flüchtig Geistige. So erklärt auch der Lektor Olaf Petersenn in einem einfühlsamen Nachwort, wieso er den ursprünglichen Arbeitstitel Schwefelgelbes Endspiel doch noch umgewandelt hat. Zurück bleiben eine vage Hoffnung, ein blindes Vertrauen auf die Macht der Freundschaft und der Gedanken, die man wohl bis zuletzt auf eine Reise schicken kann.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Peter Härtling: Der Gedankenspieler
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018
227 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Ingeborg Jaiser zu Peter Härtling auf TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Spannung!

Nächster Artikel

Vom Schreibrausch erfasst

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Lass uns Freunde bleiben

Roman | Elizabeth Strout: Oh, William!

Die Romane der Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout zeichnen sich durch Herzenswärme und Lebensklugheit aus. In Oh, William! finden zwei ehemalige Ehepartner nach Jahrzehnten der Verletzungen und Unwägbarkeiten zur alten Vertrautheit zurück. Nicht zuletzt angesichts eines Roadtrips durch Maine, der auch eine Reise in die Vergangenheit wird. Doch nicht nur die Protagonistin Lucy erkennt: »Wie typisch für das Leben: Über vieles werden wir uns erst klar, wenn es zu spät ist.« Von INGEBORG JAISER

Zehn Tage für die Jagd auf einen Mörder

Roman | Jo Nesbø: Blutmond

Nach seinem letzten Fall ist Harry Hole wieder einmal aus Oslo verschwunden. Nichts hielt ihn mehr in der Heimat nach der Ermordung seiner Frau und dem Freitod eines zwielichtigen Kollegen und ehemaligen Freundes. Doch nach wie vor wird der Mann gebraucht, wenn es die heimische Polizei mit einem Serientäter zu tun bekommt. Und so wundert es auch nicht, dass Hole nach der brutalen Ermordung zweier junger Frauen plötzlich wieder da ist. Aber er arbeitet diesmal nicht für die Osloer Polizei, sondern im Auftrag jenes Mannes, den Ermittlungsorgane und Presse für dringend verdächtig halten, die beiden Frauen getötet zu haben. Und Hole hat noch dazu wenig Zeit. Denn in Los Angeles hat er ein Versprechen gegeben, das er unbedingt zu halten gedenkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Pawel und der Steinbruch

Roman | Peter Henning: Die Chronik des verpassten Glücks »Ich habe nur meine Biographie. Und das ist der Steinbruch, aus dem ich einfach zehre«, erklärte der Schriftsteller Peter Henning kürzlich in einem Interview über seinen neuen Roman Die Chronik des verpassten Glücks, den er dem befreundeten Schriftsteller Dieter Wellershoff gewidmet hat. Der 56-jährige, der seit fast 30 Jahren als Journalist, Kritiker, Herausgeber und Erzähler umtriebig in der Kulturszene tätig ist, hatte zuletzt 2013 mit seinem Roman Ein deutscher Sommer (2013), einer opulenten Rekonstruktion des Gladbecker Geiseldramas, für Aufsehen gesorgt. Von PETER MOHR

Dresden nach dem großen Krieg

Krimi | Frank Goldammer: Roter Rabe In den letzten Kriegsmonaten setzt die Reihe historischer Kriminalromane ein, mit denen sich der Dresdener Autor Frank Goldammer (Jahrgang 1975) seit ein paar Jahren eine große Lesergemeinde geschaffen hat. Max Heller heißt sein Protagonist und die einzelnen Romane verbinden geschickt spannende Kriminalfälle mit deutsch-deutscher Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Von DIETMAR JACOBSEN

Ja so san´s, die alten Kriegersleut

Roman | Peter M. Roese: Allgäu Sixties Seit einiger Zeit ist ein äußerst burleskes Buch auf dem Markt: Allgäu Sixties von Peter M. Roese. Dieses Werk – angekündigt als olivgrün angehauchte Hommage und Liebeserklärung an das Allgäu und die 60er Jahre – ist ein Erinnerungstext gespickt mit Plattitüden der Bundeswehr, Allgäuer Heimatepisoden mischen sich mit Schmankerln der Wochenendfreigänger. Durch ein militaristisches Absurdistan hat sich HUBERT HOLZMANN geschlagen.