Wenn der Eismann zweimal klingelt

Live | 41. Tage der deutsch-sprachigen Literatur in Klagenfurt

»Germanisten-Porno« nannte es die ehemalige Preisträgerin Nora Gomringer, »Beachvolleyball-Turnier für Literatur« der Juror Klaus Kastberger: den jährlichen Wettbewerb um den begehrten Ingeborg-Bachmann-Preis, zu dem zur besten Sommerfrischezeit die Stadt Klagenfurt in diesem Jahr eingeladen hatte. Von INGEBORG JAISER

Trommelwirbel und Fanfarenstoß! Auch wenn bereits im letzten Jahr das (eigentlich verfrühte) Jubiläum ausgerufen wurde, kann getrost erst 2017 gefeiert werden: Seit 1977 findet das jährliche literarische Wettlesen in Klagenfurt statt, einst im Stile der legendären Gruppe 47 geplant und schlicht den »Ingeborg-Bachmann-Preis« auslobend – später etwas sperrig und umständlich in »Tage der deutschsprachigen Literatur« (oder hashtagtauglich: tddl) ausgeweitet.

Wer hier reüssiert, dem ist ein Freifahrtschein für eine vielversprechende schriftstellerische Karriere gesichert. Man denke nur an die Preisträger der letzten 40 Jahre: Ulrich Plenzdorf und Uwe Tellkamp, Franzobel und Kathrin Passig, Terezia Mora und Sibylle Lewitscharoff.

Schriftsteller und Knecht im 1. Lehrjahr

Während der Jahrzehnte wechselten Juroren, Spielregeln, Preisstifter. 2013 stand gar die gesamte Ausrichtung des Wettbewerbs auf finanzieller Kippe. Doch nach inzwischen bleibender Stabilisierung kann man heuer stolz verkünden: 14 lesende Autoren, 7 Juroren, 5 Preise mit einer Gesamtsumme von 62.000 Euro. Ein Novum in diesem Jahr: der Deutschlandfunk berichtet im Live-Stream und stiftet einen Preis mit beachtlichen 12.500 Euro. Eine weitere Neuerung: das stets etwas blässlich gebliebene Jury-Mitglied Juri Steiner scheidet auf eigenen Wunsch hin aus und macht Platz für den deutlich resoluter auftretenden Michael Wiederstein.

Schon im Vorfeld konnten Neugierige auf bachmannpreis.orf.at die diesjährigen Autoren samt Videoporträts bestaunen, darunter einen Amerikaner mit österreichischer Verwandtschaft, eine Serbin mit Hang zu Thomas Bernhard, einen Schweizer »Knecht im 1. Lehrjahr«. Eine bunte Mischung deutsch schreibender Autoren, allesamt zwischen Jahrgang 1960 bis 1992. Bei manch einem – wie dem nicht mehr ganz jugendlichen, längst der Popliteratur entwachsenen Eckhart Nickel – wundert man sich allerdings schon, wieso er nicht schon früher einen Ruf nach Klagenfurt erhalten hat.

Sommer in orange

Preisvergabe 2017, Bachmannpreisträger 2017 Ferdinand Schmalz
Bachmannpreisträger 2017 Ferdinand Schmalz
Foto Johannes Puch

Fast ist es schon Tradition: Pünktlich zum Wettbewerbsbeginn zieht der Ausläufer eines gewittrigen Azorenhochs über Kärnten, so dass zum »schönsten Betriebsausflug der Literatur« gleichermaßen Shorts wie Regenschirm eingepackt werden müssen. Sensible Gemüter denken auch an Bachblüten, wie die Autorin Verena Dürr in einem ORF-Interview verrät – oder schlichtweg an die neue Lesebrille (Karin Peschka). Und wer zu den Sammlern der begehrten, jährlich farblich variierenden Kunststoffplanen-Taschen mit Ingeborg-Bachmann-Konterfei gehört, darf sich 2017 über orange Akzente freuen.

Im Klagenfurter ORF-Theater, dem Schauplatz und Aufzeichnungsort des Bachmannwettbewerbs, geht in diesem Jahr die komplett weiße, minimalistisch reduzierte Kulisse leider mit unverständlichem Sitzplatzmangel einher, was beim Publikum für einigen Missmut sorgt. Gut nachvollziehbar, dass mancher Literaturbegeisterte eine bequeme Position vor Bildschirm oder Radio (es berichten u.a. ORF, 3sat, Deutschlandradio, Ö1-Kulturradio und Radio Kärnten) oder einen Liegestuhl beim Public Viewing im Klagenfurter Lendhafen dem täglichen Gerangel um einen Sitzplatz beim Live-Geschehen vorzieht.

Schade, denn so verpasst man einige Highlights, bevor die Kamera offiziell auf Sendung geht. Den schnittigen Einlauf der Juroren oder die charmanten Vorab-Warnungen des wieder recht feschen Moderators Christian Ankowitsch: »Achtung, wir sind gleich im Fernsehen. Wer noch Beinkleider, Blusen oder seinen Nachbarn wechseln möchte, sollte es jetzt tun.«

Von Vögeln und Hunden

Auch wenn am Eröffnungsabend die Autoren selbst die Lose für die Lesereihenfolge ziehen, arrangiert der Zufall stimmige Kombinationen. So changiert der erste Tag zwischen Apokalypse und Autobiografie. Bereits zu Beginn begeistert Karin Peschka mit Wiener Kindl, einer emblematischen Weltuntergangs-Geschichte über ein überlebendes »Wolfskind« zwischen streunenden Hunden. Umstrittener ist da schon Noemi Schneiders Story Fifty Shades of Grey, in der sich zwei Frauen auf der umgekehrten Flüchtlingsroute von Europa nach Marokko absetzen – vorm buchstäblichen Untergang des Abendlandes. Was hier zynisch als sarkastischer Spaß inszeniert wird, wirkt auf den Juror Kastberger als »biedermeierlichste Apokalypse«.

Im Klagenfurter Lesemarathon prallen schon mal Welten aufeinander. Direkt nach dem jüngsten Autor, dem gerade mal 25jährigen Germanistikstudenten Björn Treber, dessen autobiografischer Beschreibung der Bestattung seines Großvaters (Weintrieb) eine gewisse Unbeholfenheit und »Adjektivitis« unterstellt wird, liest der längst arrivierte amerikanische Schriftsteller John Wray. Abgesehen von Postkarten und gelegentlichen E-Mails hat der in New York lebende Autor bislang noch nie auf Deutsch geschrieben. Sein Madrigal verweist schon im Titel auf die sprachlichen Anklänge an einen mehrstimmigen Gesang und auf die Protagonistin Maddy, die tatsächlich ein bisschen »mad« ist. In geschickter Babuschka-Manier erwächst in dieser psychedelischen Bruder-Schwester-Geschichte eine neue Story in der nächsten.

Rehragout mit Wurzelgemüse

Großes Kopfkino gleich am nächsten Morgen. Mit einem treffenden Pseudonym und einem Habitus, der bei jedem Horvath-look-alike-Contest gute Chancen hätte, setzt sich der eigentlich als Matthias Schweiger geborene österreichische Dramatiker Ferdinand Schmalz gekonnt selbst ins Szene. Sein ausschließlich in Kleinbuchstaben verfasster Text mein lieblingstier heißt winter oszilliert gekonnt zwischen Klamauk und Moritat. Ein eiskaltes Kammerspiel zwischen einem Bofrost-Mann mit »tiefkühlunternehmerischen Fähigkeiten« (so Jurorin Sandra Kegel) und einem Rehragout liebenden, lebensmüden Rentner namens Dr. Schauer.

Schauerhaftes geschieht auch in Barbi Markovic´ diabolischer Parabel Die Mieter. Hier wird das Heim zum Un-Heim-lichen, die Wohnung zum Diktator, das Essen zum identitätsstiftenden, aber auch ausgrenzenden Moment. Die Jury diskutiert kontrovers und verzettelt sich in der abstrusen Fragestellung, ob ein Rettich zum Wurzelgemüse zähle. Doch vielleicht ist der zitierte »wurzellose Rettich« nur eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Serbischen?

Stricken und spontaner Applaus

Verena Dürrs Memorabilia, ein unterkühlter Text über ein Schweizer Zollfreilager, kommt im Gewand einer literarischen Reportage daher und könnte mit etwas Wohlwollen als Konzeptkunst durchgehen. Dennoch langweilen tonloser Vortrag und rhetorische Wiederholungen so sehr, dass im Publikum stellenweise sogar gestrickt wird.

Dafür verführen Jackie Thomaes kraftvolle Lesestimme und ihre lässige Clash-of-Civilizations-Story Cleanster zu spontanem Klatschen. Juryvorsitzender Hubert Winkels fühlt sich bei diesem Text an »Breaking Bad« oder »Sex in the City« erinnert, manch einer ans reale Leben: ein Flüchtling arbeitet als Putzmann bei einer überlasteten Single-Frau und strauchelt traumatisiert durch die Bigotterie unserer Wohlstandsgesellschaft.

Den zweiten Lesetag beschließt Jörg-Uwe Albig mit In der Steppe, einer äußerst ungewöhnlichen, mystisch-spirituellen Liebesgeschichte, in der ein Mann eine fast schon erotische Beziehung zu einer Kapelle (!) entwickelt. Objektophilie nennt man das wohl. Wenn sich Albig zu einem Zweitberuf entscheiden sollte, wäre ihm dank seiner wundervollen Stimme eine Karriere als Hörbuchsprecher sicher.

Endlich: der beste erste Satz

Der dritte Lesetag überrascht mit gleich zwei Höhepunkten. Der einstige Popliterat und Teil des Tristesse-Royale-Quintetts glänzt mit einem Doktortitel in Germanistik und dem Outfit eines ehemaligen Elite-Internat-Schülers auf Klassentreffen (gegeltes Haar und Hornbrille, blütenweiße Jeans und marineblauer Blazer). In seinem hyperrealistischen »Elementarteilchen«-Text Hysteria entdeckt die Jurorin Hildegard Keller begeistert den besten ersten Satz des diesjährigen Bachmann-Wettbewerbs: »Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.« Tja, es stimmt so einiges nicht in der falschen Biomarkt-Idylle und dem düsteren Dr.Mabuse-Labor, auf das ein skeptischer Konsument mit der typischen German Angst reagiert.

Außergewöhnlich auch Gianna Molinaris Geschichte von Loses Mappe, die auch »Der Mann, der vom Himmel fiel« heißen könnte und zugleich eine Studie des (Weg-)Sehens ist. Ein Wachtdienstbeauftragter bemerkt ein fallendes Objekt, traut jedoch seinen Augen nicht. Es handelt sich um einen toten Senegalesen, der sich im Fahrwerk eines Flugzeugs versteckt hat und dort erfroren ist. Molinari arbeitet mit den Mitteln der Montage und collagiert Polizeifotos mit ihrem eigenen Text. Kein neues Verfahren – und dennoch in diesem Rahmen verstörend und aufwühlend.

And the winner is….

Bis zur Preisvergabe am Sonntagvormittag sind die zuvor präsentierten Texte auf eine Shortlist von sieben Titeln eingedampft worden. Das eigentliche Feintuning vor laufender Kamera wirkt dann eher wie ein verwirrendes Hütchenspiel, wenn man die Vergabe-Statuten nicht auswendig kennt.

Nach der ersten Stichwahl steht fest: Publikumsliebling Ferdinand Schmalz erhält den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Der vielbeschäftigte Dramatiker hatte in den Vorjahren bereits zwei Einladungen nach Klagenfurt ausgeschlagen. John Wray gewinnt mit seinem ersten in Deutsch verfassten Text gleich den neuen Deutschlandfunk-Preis mit 12.500 Euro. Der Kelag-Preis (10.000 Euro) geht an Eckhart Nickel, der 3sat-Preis (7.500 Euro) an Gianni Molinari. Große Überraschung beim BKS-Publikumspreis, der über ein Online-Voting entschieden wurde: Preisträgerin Karin Peschka ist sichtlich überwältigt und darf sich neben 7.000 Euro über eine neue Aufgabe als zukünftige Stadtschreiberin von Klagenfurt freuen. Beim nächstjährigen Bachmann-Wettbewerb dürfte sie wohl noch im Amt sein.

Bis dahin: Servus, tschüss und baba!

| INGEBORG JAISER
| Foto: JOHANNES PUCH

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