Nach Schwarzes Gold (Argument Verlag 2016) ist Marseille.73 der zweite Roman, in dem Dominique Manotti in die Vergangenheit des in mehreren ihrer Bücher auftauchenden Kommissars Théodore Daquin eintaucht. Er führt den eben aus Paris Gekommenen und seine beiden Inspecteurs in die Szene der nach dem Ende des Algerienkriegs 1962 aus dem Maghreb heimgekehrten, so genannten Pieds-noirs. Deren militanter Teil hat sich in der UFRA, der »Vereinigung der französischen Algerienheimkehrer«, organisiert. Als mehrere Morde im algerischstämmigen Milieu die Öffentlichkeit aufwühlen, beginnt Daquin mit seinen Männern zu ermitteln. Und ahnt schon bald, dass ihn die Spuren auch in den Polizeiapparat und die Justizbehörden der südfranzösischen Hafenstadt führen werden. Von DIETMAR JACOBSEN
Commissaire Théo Daquin hat einen neuen Chef. Und merkt schon bald, dass dieser Percheron, der, aus Montpellier gekommen, ab sofort die Marseiller Brigade Criminelle leitet, ihm, dem Pariser, gegenüber Vorbehalte hat. Als er deshalb den Auftrag erhält, gemeinsam mit seinen beiden Inspektoren Grimbert und Delmas und in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Toulon die illegalen bis kriminellen Machenschaften von Angehörigen der UFRA, einer rechtsextremistischen Vereinigung der nach dem Algerienkrieg aus Nordafrika heimgekehrten Franzosen, aufzuklären, ahnt er schon bald, dass der Boden, auf dem er sich wird bewegen müssen, vermint ist. Sollen er und sein Team sich gar mit dieser Aufgabe blamieren? Oder steckt noch eine ganz andere Absicht hinter Percherons Anordnung? Will man den unbequemen jungen Kriminalbeamten, dem Gerechtigkeit über alles zu gehen scheint, am Ende schnell wieder loswerden?
»Schwarzfüße« und radikale Nationalisten
Mit Marseille.73 greift die Wirtschaftshistorikerin und vielfach preisgekrönte Autorin von Kriminalromanen Dominique Manotti die Unruhen auf, die im Sommer und Herbst 1973, ausgelöst durch eine Mordserie an in Frankreich lebenden und arbeitenden Algeriern, ihr Heimatland erschütterten. 15 »offizielle« Tote in Marseille und 50 in ganz Frankreich – wie viele »verunfallte« Nordafrikaner in jener Zeit ebenfalls auf das Konto rassistisch motivierter Killer gingen, hat nie jemand ermittelt – sorgten damals dafür, dass sich eine Allianz aus algerischen Migranten, Gewerkschaften, Linksparteien und Kirchen mit den Opfern solidarisierte, zu Streiks aufrief und eine konsequente Bestrafung der Schuldigen forderte. Doch deren Einfluss reichte bis in die Spitzen von Polizei und Justiz.
Kein Wunder deshalb, dass, wie man aus der informativen Nachbemerkung der Autorin zu ihrem Buch erfahren kann, lediglich zwei Täter in jenen Monaten ermittelt wurden. Verurteilte ein Gericht den einen zu einer Haftstrafe auf Bewährung, starb der Zweite, ein Sous-Brigadier der Police Urbaine, noch vor dem Prozess an einem Herzanfall im Untersuchungsgefängnis. Picon nennt Manotti die diesem Mann nachempfundene Figur in ihrem Roman. Er ist ein Mörder aus Überzeugung, der schließlich von den eigenen Leuten in der Haft getötet wird, um eine Ausweitung des Skandals zu verhindern.
Polizisten ohne Motivation
Das willkürlich ausgewählte Opfer dieses von seiner Mission überzeugten Mannes und seiner Komplizen – »Ich habe nicht zum Vergnügen getötet, ich habe meine Bürgerpflicht erfüllt, wie einige andere auch. […] Wir töten ein paar von ihnen, um die ‚Remigration‘ aller anderen zu bewirken. Wir erfüllen stellvertretend einen öffentlichen Auftrag. Ich bin stolz auf das, was ich tue«, lässt der Täter nach seiner Festnahme verlauten – ist der 16-jährige Algerier Malek Khider. Der wartet an einem warmen Augustabend vor einer belebten Bar mit klopfendem Herzen auf ein Mädchen und wird aus einem kurz haltenden Auto heraus mit drei Schüssen niedergestreckt. Gegen den Rat seiner beiden großen Brüder Mohamed und Adel hat Malek an diesem Tag sein Zuhause verlassen. Denn nach dem Mord, den ein offensichtlich geistig verstörter Nordafrikaner kurz vorher an einem Marseiller Busfahrer begangen hat, ist die Atmosphäre in der Stadt aufgeheizt, Racheaktionen militanter Gruppierungen werden befürchtet.
Weil auch in Teilen der Polizei fremdenfeindliches Gedankengut kursiert, scheint es niemand sonderlich eilig zu haben an jenem Abend mit der Aufklärung des kaltblütigen Mordes an dem jungen Mann. Im Gegenteil: Die Beamten der herbeigerufenen Sicherheitspolizei Sûreté machen ihren Job so schlampig – gesicherte Beweismittel wie zwei Patronenhülsen tauchen später zerquetscht und damit unbrauchbar gemacht wieder auf –, dass die ganze Sache schnell im Sande verlaufen würde, wären da nicht Daquin und seine beiden Assistenten.
Die drei Angehörigen der mit der Sûreté konkurrierenden Brigade Criminelle – die Unterschiede zwischen den verschiedenen französischen Polizeiorganen erklärt Manotti in ihren informativen Anmerkungen für die deutschen Leser – hat ein Zeuge der Bluttat gerufen, als er sowohl den geringen Eifer der Erstermittler als auch eine motorisierte Polizeistreife bemerkte, die, obwohl ganz in der Nähe des Tatortes platziert, nicht in das Geschehen eingriff. Und einmal mit dem Fall befasst, geben Manottis Helden nicht auf, bis die Schuldigen gefunden sind.
»Der Algerien-Krieg ist nicht vorbei«
»Zwischen einer halbkomatösen Behörde und einer Stadt unter Spannung« ermitteln Manottis Helden und riskieren dabei eine ganze Menge. Sie bekommen es zu tun mit den Rivalitäten zwischen unterschiedlichen Polizeiapparaten, stehen immer wieder Vorgesetzten gegenüber, die sich lieber wegducken, als ihre eigene Position zu riskieren. Richter verschwinden für Wochen, um nichts entscheiden zu müssen. Tatmotive werden verschleiert, Zeugen beeinflusst, Beweismittel vernichtet. Allein gegen eine alarmierte Öffentlichkeit und die breite Solidarität mit den unschuldigen Opfern, die Tausende mobilisiert und auf die Straßen Frankreichs bringt, kommen diejenigen, die über Recht und Gesetz so bestimmen, dass ihre eigenen Pfründe nie in Gefahr geraten, auf Dauer nicht an. An sein Ende gekommen ist der sich im Land der einstigen Kolonialmacht heimtückisch fortsetzende Algerien-Krieg mit der Festsetzung der Mörder von Marseille freilich nicht. Denn als das Jahr 1974 beginnt, scheint zwar die Ära der rassistischen Morde für’s Erste vorbei zu sein. Die der Bombenattentate aber setzt erst ein.
Titelangaben
Dominique Manotti: Marseille.73
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Hamburg: Argument Verlag 2020 (Ariadne 1247)
397 Seiten, 23 Euro
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| Kurzvideo von Dominique Manotti zu Marseille.73
| Dietmar Jacobsen über Dominique Manotti in TITEL kulturmagazin