Mäuse statt Schnäppchen

Kinderbuch | Thilo Krapp: Émile in Berlin

Anfang des 19. Jahrhunderts ging es los: riesige überdachte Einkaufspassagen in den großen Städten, die Vorläufer der Warenhäuser. Die erlebten, in abgewandelter, weiter entwickelter Form wenige Jahre später einen regelrechten Boom. Das »moderne innerstädtische Warenhaus« hatte um 1900 eine wahre Blütezeit. Und als Maus kann man sich, wie das hübsche Kinderbuch zeigt, in diesen riesigen Hallen ganz gewaltig verlaufen. Von BARBARA WEGMANN

Émile in BerlinHeute kämpfen sie ums Überleben, vor hundert Jahren waren die sogenannten Konsumpaläste die Attraktion jeder größeren Stadt, der Magnet für Kundinnen und Kunden, ein buntes Waren-Kaleidoskop, alles unter einem Dach. Aus Frankreich kamen die Vorbilder, das Le Bon Marché, das Printemps oder die Galeries Lafayette. Und im Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz in Berlin spielt diese Geschichte.

Aufregend ist dabei zweierlei: zum einen der Einblick in ein solches Kaufhaus mit seiner faszinierenden Architektur, seiner Pracht, dem Glanz, der baulichen Großzügigkeit. Zum anderen ist es die Geschichte, die Émile und seine Mutter Alice erleben, als sie mit dem Zug von Paris nach Berlin zu Tante Odiles Geburtstag fahren.

Dort angekommen erfüllen sich Émiles Wünsche nicht sofort. Wie gerne hätte er den Zoo besucht. Alice möchte erst einmal shoppen gehen im Warenhaus Wertheim. »Émile seufzt. Seine Mutter kann stundenlang an solchen Tischen stehen, das kennt er schon.« Was tun? Mutter und Sohn vereinbaren, dass sie sich in zwei Stunden wieder treffen und bis dahin jeder für sich das Warenhaus entdeckt. Das Unglück lässt nicht lange auf sich warten. Mit einer unbedachten Geste stößt Émile ein Terrarium vom Tisch, eine kleine Maus nutzt die Gelegenheit zur Freiheit schamlos aus. Marie, die Angestellte der Abteilung, ist entsetzt, fürchtet, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Also jagen die beiden Jugendlichen der Maus nach, quer durchs ganze Kaufhaus, die Porzellanabteilung, die Lebensmittelabteilung, sie suchen in den Büros und Werkstätten und in der Teppichabteilung. Was für eine Aufregung.

Neben der abenteuerlichen Mäusejagd und der Entdeckung des Warenhauses und seiner Angebote ist es natürlich auch ein Ausflug in die Geschichte. Es ist das Jahr 1904, die Kleidung sieht anders aus als heute, das Zugabteil mit den Polstersitzen wirkt fast wie eine gemütliche Wohnzimmerecke. Die Frauen tragen lange Kleider, die Männer einen Hut. Und dann die prächtige Jugendstilarchitektur. Aber natürlich bleiben die Maus und Émiles Suche nach ihr das Hauptthema des großformatig, sehr bunt und anschaulich illustrierten Kinderbuchs.

Dass das 19. Jahrhundert den Erfinder und Zeichner dieser Geschichte fasziniert, zeigt sich auf jeder der 40 Seiten. Thilo Krapp kommt aus Herdecke, hat in Wuppertal Kommunikationsdesign studiert: Bilder, die sprechen und erzählen, Worte, die Bilder malen, das beweist das Buch aufs Beste. Seine Texte sind so lebhaft, seine Bilder punkten durch Ausdrucksstärke.

Wie immer die Geschichte ausgeht, wer mag, erfährt Vieles über Warenhäuser und die Zeit, in der sie so beliebt waren. Auch und besonders, weil sie daraufsetzen, »durch die Schönheit der Gebäude und die prachtvolle Ausstattung ihren Besuchern das Gefühl zu geben, sie würden selber wie die Könige behandelt«. Na, fällt einem da nicht ein Spruch ein? »Der Kunde ist König«, richtig, das stammt aus dieser Zeit.

Krapp streift auch den geschichtlichen Hintergrund, der es den Warenhäusern in der damaligen Zeit zunehmend schwierig machte in Deutschland, ja, für viele das Aus bedeutete. »Viele der großen Kauf- und Warenhäuser waren von jüdischen Familien gegründet worden«. In der Pogromnacht im November 1938 wurden auch jüdisch geführte Warenhäuser verwüstet, »auch Georg Wertheim musste sein Geschäft aufgeben«.

Und irgendwann wurde dann aus Wertheim Hertie, und irgendwann wurde aus Hertie Karstadt, und schon sind wir wieder im Heute. Eine schöne, altersgerechte Reise durch die Welt der mondänen Kaufhäuser von einst, die mit den unsrigen heute nur noch so wenig gemeinsam haben. Man möchte fast sagen, leider. Und außerdem: Mäuse gibt es heute auch nicht mehr in Warenhäusern.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Thilo Krapp: Émile in Berlin
Mäusejagd im Warenhaus
Hildesheim: Gerstenberg 2021
40 Seiten, 20 Euro
Bilderbuch ab 8 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Dabeisein II

Nächster Artikel

Terror an der Côte d’Azur

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Auf der Suche nach…

Kinderbuch | Oren Lavie: Konrad Kröterich und die Suche nach der allerschönsten Umarmung

Zwischen Träumen und der Realität liegen oft unüberbrückbare Abgründe. Und kann das, was man sich in den schönsten Farben ausgemalt hat, schnell zum ganz großen Frust werden. Eine Erfahrung, die auch ein Kröterich machen muss. Hinreißend, findet ANDREA WANNER.

Das Fremde verstehen, mal wieder

Kinderbuch | Franziska Meiners: Das Flüstern des Orients Das Fremde fasziniert, weil es anders ist. Leider löst das nicht unbedingt aufrichtiges Interesse, sondern vielfach Angst und Ablehnung aus. Dagegen muss etwas getan werden! Franziska Meiners, Jungautorin und -illustratorin, stürzt sich tollkühn ins Schaffen von Verständigung. Von MAGALI HEIẞLER

Buchstaben- Suppe

Kinderbuch | Sabine Kruber: Leon Reed. Zack ins Abenteuer Leon übt für den Vorlesewettbewerb in der 6. Klasse. Wenn nur nicht so viele blöde lange Wörter in dem Text wären. Scho-ko-la-de-bon-bon-ein-wi-ckel-ma-schi-ne zum Beispiel. Wer soll denn so was lesen können? Die Lösung ist ganz nah. Von ANDREA WANNER

Forever young

Kinderbuch | Astrid Lindgren: Michel aus Lönneberga

Wie ließe sich der 60. Geburtstag eines ewigen Lausbuben besser feiern, als mit einem fast 400 Seiten starken Sammelband. ANDREA WANNER freut sich.

Eine Zeitreise

Kinderbuch | Johanna Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein

Bücher haben die Macht, mit den Dimensionen Raum und Zeit zu spielen, mit ihnen gleichsam zu jonglieren, das Ferne ganz nah herzuholen, auf das Nahe mit Distanz zu blicken, Vergangenheit und Zukunft aufzuheben. Einem außergewöhnlichen Bilderbuch gelingt das auf unnachahmliche Art, findet ANDREA WANNER