Roman | Christine Lehmann: Die zweite Welt
Bei ihrem 13. Abenteuer bekommt Lisa Nerz, Christine Lehmanns taffe, unangepasste Heldin, nicht nur die Unterstützung von Staatsanwalt Richard Weber, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. Auch die 17-jährige Tuana, in Deutschland geborene Türkin, müht sich an ihrer Seite redlich ab, einen Frauenhasser, der angekündigt hat, die 8.-März-Demo in Stuttgart in ein Blutbad zu verwandeln, dingfest zu machen. Von DIETMAR JACOBSEN
Und schließlich sind da noch Tausende von Frauen, die den ihnen seit 1921 gewidmeten Tag dazu nutzen wollen, ihre zwar verbürgten, aber noch lange nicht durchgesetzten Rechte auf gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen der Geselllschaft einzuklagen. Sie sind die wahre Heldin eines Romans, der, wie immer bei Christine Lehmann, Krimiplot und gesellschaftliche Aktualität in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander bringt.
»Ich will heute keine von euch Schlampen auf der Straße sehen. Sonst passiert was. Es gibt ein Blutbad.« Der 8. März beginnt in Baden-Württembergs Landeshauptstadt mit einem Drohanruf beim SWR. Muss man den Mann ernstnehmen, der einen Anschlag auf die für den späten Nachmittag geplante Demo in der Stuttgarter Innenstadt vorzuhaben scheint?
Oder handelt es sich lediglich um die aus Internetforen und sozialen Netzwerken nur zu gut bekannte männliche Kraftmeierei – wütende Rückzugsgefechte eines Geschlechts, das mit dem allmählichen Schwinden seiner einstigen Bedeutung immer weniger zurechtkommt? Während Staatsanwalt Richard Weber in eine eilig gebildete interne Ermittlungskommission berufen wird, weiß Lisa Nerz, dass die Sache keinen Aufschub duldet. Und so macht sie sich zusammen mit der 17-jährigen Schülerin Tuana, einer in Deutschland geborenen Türkin, auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
»Es gibt ein Blutbad!«
Denn der Mann, der in Christine Lehmanns neuestem Lisa-Nerz-Roman, dem dreizehnten in einer Reihe, die auf dem deutschen Krimimarkt ihresgleichen nicht hat, seinen Frauenhass brutal auszuleben droht, ist nicht leicht dingfest zu machen. Immer hemmungsloser und aggressiver geht es nämlich auf den einschlägigen Seiten im Netz zu, wo aus dem Schutz der Anonymität heraus Frauen beleidigt, beschimpft und bedroht werden.
Christine Lehmanns Heldin könnte es deshalb sowohl mit einem frustrierten Einzelgänger zu tun haben, vielleicht einem der so genannten »Unfrens«, »unfreiwillig Enthaltsamen«, die bei Frauen nicht landen und daraus ihren Frust ableiten, als auch auf der Suche nach jemand sein, dessen ideologischer Hintergrund in der seit Kurzem im baden-württembergischen Parlament sitzenden populistischen »Partei des gesunden Menschenverstandes« (PGM) vermutet werden kann, die mit einer eigenen 8.-März-Demonstration ihre Anhängerinnen zu mobilisieren versucht.
Den sich im Umkreis der PGM sammelnden »Wutbürgern« traut Lisa Nerz jedenfalls einiges zu. Denn wer den internationalen Kampftag der Frauen dazu benutzen will, die Öffentlichkeit auf die »zutiefst frauenverachtende Scharia-Kultur« und das »genderfeministische Gesinnungsdiktat der Parteien« aufmerksam zu machen, scheint nichts von dem diesen Tag charakterisierenden weltweiten Anliegen der Frauen verstanden zu haben und versucht, auf der Sache der einen Hälfte der Menschheit sein eigenes fremdenfeindliches Süppchen zu kochen.
Zwischen »Unfrens« und »Wutbürgern«
Einer der Höhepunkte des Romans ist das Aufeinandertreffen von Lisa Nerz als Vertreterin aller »Menschen mit Menstruationshintergrund« mit Volker Levin, dem PGM-Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Landtag. »Die gewaltsame Gleichmacherei und Entgeschlechtlichung der Geschlechter ist der größte Irrtum, nein, die größte Katastrophe dieses Jahrhunderts«, lautet desssen Credo. Und mit dem Bekenntnis, dass »die Geschlechter […] nun einmal ihrer Natur gemäß unterschiedliche Rechte und Pflichten [haben]«, treibt er seine Kontrahentin zu der programmatischen Aussage, sie sei »Lisa Nerz, Feindin aller Männer, die Frauen hassen«.
Weil sie aber auch Lisa Nerz, die kluge Ermittlerin, ist, gelingt es ihr mit Hilfe der computeraffinen Schülerin Tuana, die sich ganz nebenbei noch um ihre eigenen Probleme und die ihrer Freundin, die zwangsverheiratet werden soll, kümmern muss, dem Täter immer näher zu kommen. Dessen Ziel besteht vor allem darin, mit seiner Terrordrohung die Frauen von Stuttgarts Straßen und Plätzen fernzuhalten, dafür zu sorgen, dass sie an diesem Tag nicht ihre Stimmen öffentlich erheben können in dem »Kulturkampf, in dem sich Wohl und Wehe der Welt entscheiden«.
Allein mit der Hilfe von vielen, die sich nicht einschüchtern lassen, gelingt es Lisa und ihren Verbündeten am Ende dieses Tages, mehr Frauen zusammenbringen und friedlich für ihre Rechte demonstrieren zu lassen, als die Stuttgarter Innenstadt je gesehen hat: »Es waren nicht die üblichen feministischen Verdächtigen, es waren junge Frauen, Schülerinnen, Studentinnen, Sekretärinnen, Bürofrauen, Erzieherinnen […] Überall Frauen, nur Frauen, viele Frauen, verschiedene Frauen […] Es war einfach cool, krass, übel, heiße Scheiße!«
Feminismus vs. Populismus
Die zweite Welt ist vieles in einem. Natürlich ein spannender Kriminalroman mit ausgeklügeltem Plot und einem Showdown, der dem männlichen Wahnsinn in allerletzter Sekunde Einhalt gebietet. Andererseits aber auch ein Stuttgart-Buch, mit dessen Hilfe sich der Leser die Landeshauptstadt am Neckar erlaufen kann – von Schauplatz zu Schauplatz auf den Spuren von Lisa Nerz, ihrer neuen jungen Freundin Tuana und den Tausenden von Frauen, die sich von angedrohter männlicher Gewalt nicht einschüchtern lassen.
Stattdessen zeigen sie Präsenz und strömen aus allen Himmelsrichtungen zusammen, um ihre, jene titelgebende »zweite Welt« zu verteidigen. Gleichzeitig ist das Buch aber auch eine Kampfschrift gegen die aktuelle Tendenz, eine Gleichheit der Geschlechter zwar öffentlich zu behaupten, hinter den Kulissen aber an der bisher gelebten Ungleichheit wenig bis nichts zu ändern. Und nicht zuletzt hat Christine Lehmann ein sich der Geschichte der Frauenbewegung in den letzten 50 Jahren sehr bewusstes Plädoyer für einen modernen Feminismus geschrieben, dessen Ziele sich von denen des aktuell grassierenden Populismus komplett unterscheiden.
Titelangaben
Christine Lehmann: Die zweite Welt
Hamburg: Argument Verlag 2019 (Ariadne 1237)
253 Seiten. 13,- Euro
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