Eine bekannte New Yorker Persönlichkeit ist ermordet worden. Frank Avellino war einmal der Bürgermeister der Millionenmetropole. Nun hat ihn eine seiner beiden Töchter getötet, unheimlich brutal, mit 53 Messerstichen. Das Problem nur: Zum Zeitpunkt seines Todes waren beide Frauen im weitläufigen Haus des Vaters. Und jede von ihnen bezichtigt die andere der Tat. Ein Fall also, in dem die Chancen eines Anwalts tatsächlich Fifty-Fifty stehen. Und damit genau die richtige Herausforderung für Eddie Flynn. Aber hat sich der renommierte New Yorker Strafverteidiger mit Sofia Avellino wirklich jene Schwester ausgesucht, die unschuldig ist? Oder verteidigt er guten Glaubens eine gefährliche Psychopathin, die noch während der Vorbereitungen auf den Geschworenenprozess unliebsame Zeugen beseitigt? Von DIETMAR JACOBSEN
Der Fall sorgt für Aufsehen: Frank Avellino, einst New Yorks Bürgermeister und ein steinreicher Mann, wurde in seinem Stadthaus getötet. Dass sich die Frage nach der Täterschaft von vornherein erübrigt, erweist sich allerdings nicht als Vorteil für die Justizbehörden. Denn Alexandra und Sofia, die beiden Töchter Avellinos aus erster Ehe, waren zum Zeitpunkt der Tat beide vor Ort und beschuldigten sich sofort gegenseitig, den Vater ermordet zu haben. Aber wer ist die eiskalte Killerin – 53 Messerstiche und eine Bisswunde zeugen von einem so blinden wie hasserfüllten Blutrausch – und wer das unschuldige Opfer?
Opfer oder Täterin?
Fifty-Fifty ist der fünfte Fall für den New Yorker Strafverteidiger Eddie Flynn. Der hat seit seinem letzten Einsatz für den unter Doppelmord-Anklage stehenden Hollywood-Star Robert Solomon, bei dem sich der wahre Täter unter die Geschworenen gemischt hatte (Thirteen, die deutsche Übersetzung erschien Anfang 2022 im Goldmann Verlag), Erfahrungen mit Psychopathen.
Ob die ihm bei der neuen Herausforderung von Nutzen sind, erfährt man als Leser des in Irland geborenen Autors Steve Cavanagh (Jahrgang 1976), der während der Niederschrift dieses Romans tagsüber noch als Vollzeitanwalt arbeitete, wie üblich erst zum Schluss. Bis dahin darf man ein raffiniert aufgemachtes Wechselspiel genießen, welches seine Spannung daraus bezieht, dass das Pendel mal in Richtung der älteren und in ihrem ganzen Erscheinungsbild solider wirkenden Schwester Alexandra, mal in Richtung der mehr chaotisch daherkommenden Sofia ausschlägt.
Letzterer traut Flynn die brutale Tat nicht zu, zumal sich nach und nach erweist, dass der Mord an Frank Avellino wohl nur die Spitze eines Eisbergs von Verbrechen markiert, die einerseits bis in die Kindheit der Avellino-Schwestern, zurückreichen – Mutter und Stiefmutter der beiden Verdächtigen kamen unter mysteriösen Umständen ums Leben –, andererseits aber auch während der Vorbereitungen auf den Geschworenenprozess gegen die beiden jungen Frauen weitergehen.
Da sich sowohl Alexandra als auch Sofia zu dieser Zeit auf Kaution noch in Freiheit befinden, hätte jede von ihnen die Möglichkeit, wichtige Zeugen oder bestochene Personen zu beseitigen, die dabei behilflich waren, ein Netzwerk aus Lügen um die jeweils andere Schwester herum zu knüpfen.
Zwei Anwälte, eine Überzeugung
Geschickt arbeitet Cavanaghs Thriller mit unterschiedlichen Erzählperspektiven. Während Eddie Flynns zentrale Rolle dadurch unterstrichen wird, dass er konsequent als Ich-Erzähler auftritt, erleben die Leser alle anderen Personen, wenn der Fokus kapitelweise zu ihnen wechselt, aus einer distanzierteren personalen Erzählhaltung heraus. Dass sich auch die Stimme der wahren Täterin gelegentlich unter die anderen Perspektiven mischt, trägt nicht unerheblich zur Steigerung der Spannung bei. Leider kommen ihre Auftritte nur dann zum Tragen, wenn im Roman aus Tätersicht der Ablauf der Morde vor und während des Prozesses beschrieben wird. Das sind dann einerseits die gewalttätigsten, andererseits aber auch erzählerisch schwächsten Stellen des Buches. Ganz auf der Höhe seines Könnens ist der Autor hingegen wieder bei den Gerichtsszenen in der zweiten Hälfte des Romans, weil er hier natürlich die eigenen Prozess-Erfahrungen einbringen kann.
Dass Fifty-Fifty über seiner spannenden Handlung, die die Leser des Romans bis hin zum Schluss gefangen nimmt, die gegenwärtige amerikanische Wirklichkeit nicht ausblendet, macht das Buch umso lesenswerter. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft infolge der Trump-Präsidentschaft und ihres unrühmlichen Endes, der wachsende Einfluss von Rechtsradikalen an sensiblen Schaltstellen des Systems, männlicher Chauvinismus und alltäglicher Rassismus – das alles wird aus einer Position heraus angesprochen, die verdeutlicht, wie wichtig sowohl für Eddie Flynn wie auch für seinen Erfinder der aktuelle Kampf um den Erhalt demokratischer Strukturen in den Vereinigten Staaten ist.
Flynn und Brooks – ein Paar mit Zukunft
Eine Art Gegenspielerin auf Zeit besitzt Flynn übrigens in der jungen Anwältin Kate Brooks. Als Verteidigerin von Alexandra Avellino eigentlich mehr daran interessiert, ihre Mandantin zu entlasten, indem sie Flynns Mandantin belastet, ist ihr Rechtsempfinden doch so weit entwickelt, dass der Einsatz von fragwürdigen Methoden und manipulativen Auftritten vor den Geschworenen für sie nicht infrage kommt. Überhaupt muss sie sich, um an ihren ersten großen Fall zu kommen, erst einmal aus der Abhängigkeit von einem übergriffigen, Jahrzehnte älteren Kanzleikollegen, der ihr allenfalls eine Nebenrolle vor Gericht zugedacht hat, befreien und, nachdem ihr das mit einem raffinierten Schachzug gelungen ist, weitere hinterhältige Angriffe von seiner Seite auf ihren Ruf und ihre Stellung abwehren. Dass es am Ende des Romans so aussieht, als würden Flynn und Brooks in Zukunft unter dem Dach einer gemeinsamen Kanzlei zusammenarbeiten, gibt nicht nur Cavanaghs Romanreihe eine Perspektive, sondern lässt auch hoffen, dass der seit seiner Scheidung alleinlebende Held endlich wieder in sozialeres Fahrwasser geraten könnte.
Titelangaben
Steve Cavanagh: Fifty-Fifty
Aus dem Englischen von Jörn Ingwersen
München: Wilhelm Goldmann Verlag 2022
510 Seiten. 15 Euro
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