Roman | Lee Child: Der Einzelgänger
Er ist der wohl härteste Held der Thrillerliteratur: Jack Reacher. Ständig on the road mit nicht mehr als einer zusammenklappbaren Zahnbürste, einem zerfledderten Pass und einer selten gebrauchten Geldkarte, sorgt er seit seinem ersten Auftritt in Lee Childs Roman Killing Floor (1997, deutsche Übersetzung 1998 unter dem Titel Größenwahn) dafür, dass die Gerechtigkeit nicht auf der Strecke bleibt im Amerika des 21. Jahrhunderts. Von DIETMAR JACOBSEN
Reachers Erfinder hat mit dessen Abenteuern bisher 23 Romane gefüllt. Dass daneben auch eine Reihe von nicht minder guten Storys entstand, blieb dabei nahezu unbemerkt. Doch die jetzt auf Deutsch unter dem Titel Der Einzelgänger versammelten Texte zeigen, dass Child auch die Kunst, sich kurz zu fassen, beherrscht wie nur die Besten seiner Branche.
Gleich in der ersten, bis dato unveröffentlichten Story des Bandes mit dem Titel Zu viel Zeit bekommt man es mit einer für Reacher typischen Situation zu tun. In einer »blühenden Kleinstadt in Maine« gelandet, will Childs Held nur helfen, einen flüchtenden Dieb zu stellen, und sieht sich kurz darauf selbst hinter Gittern. Denn ohne es zu ahnen, hat er einem korrupten DEA-Agenten die perfide Tour vermasselt. Der muss nun fürchten, aufzufliegen, und unternimmt alles, um Reacher für immer zum Schweigen zu bringen. Aber da legt er sich natürlich mit dem Falschen an.
Der Einzelgänger heißt der Band mit Storys, von denen zwei bis in die Kindheit und Jugend von Childs Serienheld zurückreichen und zeigen, dass Reacher eigentlich schon immer Reacher war. Selbst in der eigenen Familie, der eines Offiziers der Marines, in der Jack und sein älterer Bruder Joe ständig gezwungen waren, die Schulen zu wechseln und sich an neue, nicht immer komfortable Unterkünfte zu gewöhnen, weil der Vater rund um den Globus im Einsatz war, rief man den Jüngeren immer nur mit seinem Nachnamen. Einen jener in den USA üblichen Mittelnamen – der Originaltitel der Story-Sammlung lautet No Middle Name – besaß er überhaupt nicht. Dafür aber war er bereits mit 13 Jahren größer als die meisten Jungen seines Alters, versprach, auch weiterhin kräftig zuzulegen, und ging keinem Kräftemessen auf der Straße aus dem Weg.
Reacher war schon immer Reacher
Addiert man zu diesen schon bei dem Heranwachsenden ausgeprägten Eigenschaften noch Reachers überragende Kombinationsgabe, seinen in jeder Lebenslage ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und die Tatsache, dass Childs Held potentielle Gegner nie ins offene Messer laufen lässt, sondern sie im Voraus gewöhnlich darauf aufmerksam macht, welches Risiko sie eingehen, wenn sie sich mit ihm einlassen, hinzu, so hat man den Mann, für den in bisher 23 Roman-Abenteuern Gut und Böse immer deutlich geschieden waren.
Dass der sich, auf der Seite der Anständigen stehend, was oft auch die Seite der Schwächeren ist, nicht scheut, für seine Überzeugungen auch zu töten, mag für manchen nicht ganz unproblematisch sein. Mit dem Vorwurf, dass das hinter Reachers Taten stehende Weltbild nicht nur schlicht, sondern auch ultrakonservativ ist, hat sich sein Erfinder aber wohl inzwischen abgefunden, zumal die Millionen Leser in aller Welt, die auf jedes neue Reacher-Abenteuer ungeduldig warten, ihre eigene Sprache sprechen.
Wie in den Romanen ist Reacher auch in den zwölf Erzählungen des vorliegenden Bandes ständig auf Achse. Wir erleben ihn sowohl an der Ost- wie auch der Westküste der USA, im nördlichen Maine und im südlichen Geogia, als Jugendlichen auf einem Marine-Stützpunkt in Okinawa, sommers wie winters in New York und einmal sogar dank eines Freiflugs, der sich allerdings zum Desaster entwickelt, zu Weihnachten in Europa (Vielleicht gibt es eine Tradition).
Als knapp Siebzehnjähriger macht er am 13. Juli 1977 den 25-stündigen Stromausfall, der New York im Chaos versinken ließ, mit und begegnet in jener Nacht nicht nur einer reizvollen Studentin, sondern auch dem auf Opfersuche in der Stadt umherstreunenden Serienmörder David Berkowitz, der als »Son of Sam« in die Geschichte einging.
Helfer in der Not
Und auch als Helfer in der Not taucht Reacher auf. Bezeichnenderweise mit einer Leiche im Kofferraum, deren Identität der aus seiner Arbeit entlassene und, nachdem er aus Frust über das erlittene Unrecht nicht nur das eigene Haus abgebrannt hat, von der kalifornischen Polizei gesuchte James Penney dringend nötig hat (James Penneys neue Identität). Dass Childs Held mit seiner großzügigen Tat gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt, muss der arme Mann, dem unterwegs auch noch sein nagelneues Auto gestohlen wurde, ja nicht wissen. Und Reacher genügen ein paar Fragen, um zu entscheiden, dass er den im Grunde seines Herzens unschuldigen Mann unter keinen Umständen an die Polizei ausliefern wird, sondern ihm zum Start in ein neues Leben verhilft.
Die meisten der in Der Einzelgänger versammelten Storys sind so gut, dass man sich Zeit lassen sollte mit der Lektüre. Allein die haben Reacher-Leser hierzulande eigentlich gar nicht. Denn schon kündigt Lee Childs deutscher Verlag den nächsten Roman – Keine Kompromisse – für den Sommer an. Und dahinter warten bereits drei weitere Reacher-Abenteuer auf ihre Übersetzung. Wir müssen also auch in den nächsten Jahren nicht auf diesen »Optimist[en] mit flexibler Planung«, wie Child seinen Helden an einer Stelle überaus treffend bezeichnet, nicht verzichten. Wenn das keine gute Nachricht ist!
Titelangaben
Lee Child: Der Einzelgänger. Jack-Reacher-Storys
München: Blanvalet 2018
447 Seiten. 20,- Euro
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