/

Hell of a Beach

Comic | Marcello Quintanilha: Tungstênio

Der Krimi-Comic ›Tungstênio‹ des brasilianischen Zeichners Marcello Quintanilha beginnt scheinbar harmlos, entfesselt aber schnell eine überkochende Hetzjagd. Er hält sein Tempo über all seine 182 Seiten. Und lässt CHRISTIAN NEUBERT atemlos zurück.

Marcello Quintanilha - TungstenioAn einer Küste, irgendwo in Brasilien, thront eine Befestigungsanlage hoch oben auf den Klippen. Sie wirkt verwaist und irgendwie altertümlich, ist sie aber nicht: Sie ist ein aktiver militärischer Stützpunkt, der den Strandabschnitt sichern soll. Unten am Strand machen derweil zwei Ganoven fette Beute. Indem sie mit Dynamit fischen, machen sie den Fang ihres Lebens.

Ihr Lärm macht allerdings zwei Leute auf sich aufmerksam. Zwei ungleiche Typen, die sich in der Nähe der Kaserne treffen und sich unterhalten. Zum einen Caju, ein kleiner Dealer, der jeglichem Ärger aus dem Weg gehen will, weswegen er die Dynamitfischer lieber ignoriert. Zum anderen Seu Ney, ein ehemaliger Soldat, einst ein Sargento. Ein autoritärer Kerl, der sich selbst innerhalb seiner Lebenslügen noch maßlos überschätzt. Er verlangt von Caju, sich der Sache anzunehmen, aktiv zu werden. Nicht allerdings, indem er die Polizei holt. Die Soldaten sollen´s richten. Die jedoch fühlen sich nicht zuständig.

Falsche Zeit, falscher Ort

Caju fasst bald den Entschluss, jemanden anzurufen, der sich kümmern soll. Den Undercover-Polizisten Richard. Er hat dessen Nummer, weil er sich ab und an für ihn als Informant verdingt. Außerdem weiß er, dass Richard ganz in der Nähe ist. Der Cop geht an sein Telefon. Und rennt los. Was die Eskalation eines scheinbar unbedeutenden Vorfalls einleitet.

Bevor sich die einzelnen Personen zum Showdown am Traumstrand versammeln, erzählen scharf in die Handlung montierte Rückblenden mehr von ihren Motivationen. Außerdem lernt man noch eine weitere Figur kennen, die einen Platz in dieser Konstellation beansprucht: Keira, eine zwischen Liebe, Verzweiflung und Hass hin- und hergerissene junge Frau. Der Comic-Künstler Marcello Quintanilha schafft es, seinem Leser die Handlungsträger nahe zu bringen, obwohl er niemandem Zeit zum Luftholen lässt, weder ihm noch ihnen: Der Erzählrhythmus von ›Tungstênio‹, so der Name seines Comic-Thrillers, folgt dem gefährlichen Tempo eines nach oben gejagten Pulsschlags. Was harmlos und ruhig beginnt, mündet schnell in einer sich immer weiter zuspitzenden Spirale der Gewalt.

Leben an der Zündschnur

›Tungstênio‹ hält sein Tempo über all seine 182 schwarz-weißen, mit reduziertem Realismus gezeichneten Seiten. Er gönnt kaum ein Innehalten, ist stets nah dran am Geschehen, an den Emotionen der Figuren und dem Ausdruck ihre Gesichter. Die Stimmung des Comics ist durchweg aufgeladen, gehetzt, nah am Siedepunkt. Ein Überdruckventil kennt sie allerdings nicht. Daher wohl auch sein Name: ›Tungstênio‹ ist das portugiesische Wort für Wolfram – für das Metall mit dem höchsten Schmelzpunkt. Obwohl längst am Glühen, kann es immer noch heißer werden.

Die Geschichte beginnt am Sandstrand. Und obwohl sie ihn nie wirklich verlässt, wirft er ihre Figuren auf einen ganz anderen Boden der Tatsachen. Sie ist ein verzahnter, hochspannender Krimi. Ursprünglich 2014 veröffentlicht, ist ›Tungstênio‹ die erste längere Comic-Erzählung des in Barcelona lebenden brasilianischen Zeichners. Zugleich ist er sein erster in Deutschland veröffentlichter Band. Er diesen Sommer in deutscher Übersetzung beim ›Avant‹-Verlag erschienen. Als brandheißer Lesestoff lauer Abende.

| CHRISTIAN NEUBERT

Marcello Quintanilha: Tungstênio
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Lea Hübner
Berlin: Avant-Verlag 2017
182 Seiten. 24,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn der Eismann zweimal klingelt

Nächster Artikel

»Imagination ist die Hefe der Revolte«

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Daily Soap in Lack und Leder

Comic | Stjepan Sejic Sonnenstein Bd. 1 + 2 Als selbsterklärter BDSM-Comic ist ›Sonnenstein‹ wohl eher ein Klaps auf den Po als harte Fetisch-Kost. Fesseln kann das natürlich trotzdem, aber tut´s das? CHRISTIAN NEUBERT hat die ersten beiden Sammelbände mal so richtig rangenommen.

Zurück in verschiedene Zukünfte

Comic | Wallace Wood Bd.1 / Hombre Bd.1 Beim All-Verlag geht der Comic als Zeitmaschine in Serie. Zum Beispiel in Form der ersten beiden Bände der Endzeitabenteuerreihe ›Hombre‹ von Segura und Ortiz und der EC-Archiv-Reihe, die sämtliche Sci-Fi- und Fantasy-Storys von Wally Wood kompiliert. Beide sind auf drei Bände angelegt. Der eine führt in eine retrofuturistische Zukunft, der andere in eine knüppelharte Endzeit – und beide kommen gut an. CHRISTIAN NEUBERT hat nachgesehen.

Auf der Reeperbahn, Nachkrieg, halbwüchsig

Comic | Isabel Kreitz: Rohrkrepierer Mit ›Rohrkrepierer‹ adaptierte Isabel Kreitz den gleichnamigen, im Hamburg der Nachkriegszeit angesiedelten Roman von Konrad Lorenz als Comic – und legt damit ein weiteres Zeugnis ab, wie gut sie es versteht, authentische Eindrücke und lebendige Figuren zu schaffen. Von CHRISTIAN NEUBERT

Die Schönheit und ihr Preis und Wert

Comic | Hubert/Kerascoët: Schönheit Ein Abenteuercomic, zauberhaft in seinem Märchencharakter und seinen Bildern: Hubert und Kerascoët begeben sich in »Schönheit« auf die Suche nach eben dieser – und lassen von Anfang an keinen Zweifel daran, einen wunderschönen Comic geschaffen zu haben. Von CHRISTIAN NEUBERT

Watching the Watchmen

Comic | Watchmen/Fatale/Ferals BORIS KUNZ hat sich der zweiten Hälfte der umstrittenen Reihe Before Watchmen gewidmet, und ist dabei mal positiv, mal negativ überrascht worden. Weniger überraschend geht es dafür bei anderen Fortsetzungen bei Panini zu: Brubakers Fatale und Laphams Ferals bieten im jeweils zweiten Band gruselige Unterhaltung nach bewährtem Schema.